Freitag, 29. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (19)

Das Maß an Kreativität der Arbeit war sehr hoch. Ich hätte etwas „zum Abhaken“ machen können, ohne anzuecken. Aber gerade weil ich es selbst wollte, jagte ich laufend Verbesserungen hinterher. Seltsamerweise schlug das die schwächsten Glieder der Abteilung in den Bann. Wir hatten eine Sachbearbeiterstelle bzw. Schreibkraft, die eigentlich für alle Hilfsarbeiten zu erbringen hatte, wenn sie gebraucht wurde. Die erste Kollegin existierte häufig nur bedingt physisch an ihrem Arbeitsplatz. In Gedanken (und mindestens am Telefonhörer) war sie beim fast unmöglichen Bändigen ihrer pubertierenden Tochter (sie war allein erziehend). Ihr Ruf war wenig berauschend: Faul, quatscht viel, hat von nichts Ahnung … usw. Ich war ja nicht ihr „Chef“. Aber ich missbrauchte sie zum Ideentest und für organisatorische Aufgaben mit sehr komplexen Anforderungen. Ergebnis: Sie blühte auf. Sie entwickelte Vergnügen an der (Mit-)Lösung von Problemen, die nicht von vornherein lösbar schienen. Sie brachte sich in immer beeindruckenderem Umfang in die Arbeit ein. Bei ihrer jüngeren Nachfolgerin war dies noch stärker. Während sie von den Anderen ihrer Ebene entsprechend behandelt wurde und man wenig von ihr hielt, war sie neben mir voll gut drauf. Abgesehen davon, dass sie durchaus intelligent war, verstanden wir uns extrem gut zu ergänzen. Über ihre weiblich charmanten Umgangsformen verfügte ich nun mal nicht – jeder zog aus dem Anderen die größten Nutzeffekte, zusammen ergab sich ein Niveau, auf das wir uns einiges einbilden konnte.
Beide Sachbearbeiterinnen wuchsen über sich hinaus, indem ihre Aufgabe sie forderte, indem sie ahnten, die jeweilige Aufgabe lösen zu können … und dadurch, dass sie das Gefühl hatten, dass eine schwierige Aufgabe von ihnen (mit) gelöst werden würde, weil genau sie das waren, ihre ganz persönlichen Qualitäten.
An sich Banalitäten. Aber es kann schon beeindrucken, wie weit Menschen über ihren bisherigen Schatten springen können, wenn die Rahmenbedingungen dafür stimmen. Bei beiden Kolleginnen war die unterschwellige Verachtung, die ihnen meist entgegengebracht worden war, nicht einfach unberechtigt. Beide aber entfalteten eigentümliche Qualitäten, sobald die als wertvoll angenommen wurden.
Aber ich muss noch einmal zeitlich zurück greifen. Schließlich ist es nicht allein eigene ausufernde Fantasie, dank derer es mir leichter fällt, mich in Bedingungen hineinzuversetzen, die es in der uns vorliegenden Welt einfach nicht gibt, egal ob nicht mehr oder noch nicht.
Im Anschluss an das Studium war mir nämlich eine Reise vergönnt, die in gewisser Hinsicht auch eine Zeitreise gewesen ist. Dabei begann sie mit einem für mich typischen Reinfall. Gegen Ende des Studiums wurde ich mit einer Studentin verkuppelt, die ihre Semesterferien bereits geplant hatte. Ohne meine körperlichen Probleme zu berücksichtigen stimmte ich spontan zu, als sie mich fragte, ob ich mitkommen wolle. Mit befreundeten Pärchen würde sie eine Gebirgswanderung in den rumänischen Karpaten unternehmen. Einfach Rucksack gepackt und los. Bei den ersten Beanspruchungen meine Knie wurde dann deutlich: keine Chance. Alleine zurück? Liane hatte den wiederum sehr spontanen Einfall. Sie trennte sich auch von den Anderen und zu zweit begann eine Tour, bei der ich nicht sagen kann, ob sie sich heute irgendwo auf der Erde wiederholen ließe ...

Donnerstag, 28. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (18)

Gelegentlich entschuldigt man den Frieden, den viele DDR-Bürger mit dem Staat gemacht hatten, den sie nach heutiger Lesart ja unbedingt ablehnen mussten, damit, dass sie sich „in Nischen“ einrichteten. Stimmt: So könnte man das bei mir ausdrücken. Allerdings hatte mein „Nischendasein“ Formen, die nicht nur ihrer Zeit weit voraus waren, sondern heute schwerer vorstellbar sind.
Klar. Ein Großteil der Voraussetzungen waren Besonderheiten geschuldet. Eine war bereits die räumliche Ausgliederung. Obwohl leitungstechnisch in einem Topf mit der „Kaderabteilung“ (also dem, was heute Personalwesen heißt), waren unsere Arbeitsplätze nicht auf dem Betriebsgebäude, sondern meist in wechselnden Wohnungen untergebracht. Die Kollegen hatten alle gut voreinander abgegrenzte Verantwortungsbereiche. Der Abteilungsleiter verstand sich als ungewöhnliche Auslegung seine Herkunft aus dem abgedienten Offizierskorps der NVA nicht als Kommandeur, sondern als Puffer zwischen verantwortlichen praktischen Einzelkämpfern und vorgesetzten Theoretikern, die viel zu sagen hatten, aber wenig von ihren Angelegenheiten verstanden.
Meine Aufgabe war eine Dienstleistung für das Kombinat (also die organisatorische Zusammenfassung der Betriebe mit zusammen passenden Profil – wobei diese „Definition“ nur dadurch anfechtbar wird, dass ALLE volkseigenen Betriebe einem Kombinat angegliedert waren … und manches passte eben nicht …): Der Außenhandelsbetrieb war zuständig für die gesamte Tätigkeit aller Kombinatsbetriebe im Ausland, wobei für das „nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet“ Sonderbedingungen herrschten. Alle diese „Reise- und Auslandskader“ hatten vor der ersten (und dann rhythmisch) einen allgemeinen Lehrgang zu absolvieren. Was dort Gegenstand sein sollte, war in allgemeinen Ministeriumsplänen (grins) festgehalten. Allerdings war dies genau genommen ein geballtes Gesamtstudium Außenwirtschaft, Weltanschauung und Menschenqualität. Also eigentlich so gefasst, dass irgendwie auf jeden Fall vom großen Plan abgewichen werden musste. Es war den Bedingungen vor Ort überlassen, zu entscheiden, was wirklich gemacht werden konnte. Ich hatte die tatsächlichen Lehrgänge zu planen und diese Planung auch praktisch umzusetzen. Dazu hatte ich freie Hand, woher ich welche freien Dozenten gewann (allerdings im eigenen staatlichen Rahmen. Es wäre wahrscheinlich überhaupt nicht aufgefallen, hätte ich einige Tage nur Privatangelegenheiten erledigt. Da wäre ich eben auf Dozentensuche gewesen.
Erfolg war, wenn die Teilnehmer nicht nur ihre Pflichtwochen abgesessen , sondern etwas zur eigenen Weiterentwicklung mitbekommen hatten. Da durfte man sich schon einiges einfallen lassen. (Jener Abteilungsleiter sorgte dafür, dass nicht allzu ausufernde Kreativität durch die unsere Truppe verlassenden Informationen durchschimmerte.)

Mittwoch, 27. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (17)

Darf man mir verübeln, dass ich das vergnüglich fand? Aus einer spontanen Tageslaune heraus landet einer auf einem Pädagogenplatz – und noch dazu auf dem des grausigen Rotlichtbestrahlers für unschuldige Kinder? Ich kann es nur für mich festhalten: Ja, so anarchisch habe ich Staatsbürgerkundelehrer werden können. Und mir ist nie ein „Stasi“-Schlapphut mit dem Wunsch nach einer „Verpflichtung“ (aus anderen Gründen auch nicht) begegnet – ja, ich war nicht einmal Mitglied oder „Kandidat“ der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Das war nicht Bedingung (wäre wegen des Aufnahmeverfahrens auch nicht möglich gewesen, da ich kein Jahr irgendwo fest haften geblieben war). Später habe ich mich darum bemüht, dies zu ändern. Das war schwieriger. Ich nahm es allerdings auch ernst mit der Auswahl meiner Bürgen. Ich hatte meine Freiheit voll ausgereizt und erwartete nicht von vornherein, dass man ausgerechnet mir Vertrauen entgegenbrächte – brachte man aber.
Probleme gab es eigentlich überwiegend mit Kleingeistern. Während die Freiheiten, die wir in der „Sektion Marxismus-Leninismus“ bei der praktischen Ausgestaltung unseres Studiums und im Ausreizen unserer Meinungsbildung genossen, beobachteten wir bei den Studenten der Geschichtssektion Anderes. Dort wurde schulmäßig gegängelt. Ich entschied sehr frei darüber, welche Veranstaltungen ich tatsächlich in Anspruch nahm, und viele der Gedankengänge, mit denen uns unsere Professoren „bearbeiteten“, hätte nach heute üblichem DDR-Bild deren sofortiges Verschwinden in „Stasi-Knästen“ zur Folge haben müssen.
Einzig die „Freiheit“ zum Drogen“konsum“ hatten wir nicht – ich glaube aber nicht, dass mir da etwas entgangen sein könnte. Klar wäre ich gern auch einmal durch die andere Hälfte der Welt gereist, aber durch die Länder des Ostens zu reisen war auch bereichernd, wenn man die Augen offen hielt.
Darauf komme ich noch zurück.
Für meinen Gesamtweg war dann ein anderer Bruch Ausschlag gebend: Klar, ich konnte mich hinter den Stimmbändern verstecken. Aber eigentlich bin ich nie auf dem Weg zu einem guten Lehrer gewesen. Was den Umgang mit Schülern anging, bin ich eben eher „Coach“ oder Geistes-“Trainer“ für interessierte Gruppen als ein Massen dressierender Lehrer. An der richtigen ersten Einsatzschule nach dem Studium war ich aber der einzige Staatsbürgerkundelehrer, der alle Schüler der Schule in dem Fach zu unterrichten hatte – ohne die meisten je kennen gelernt zu haben.
Vielleicht hätte man mir meine „Anfangsprobleme“ kameradschaftlich verziehen. Aber eine Kollision mit der Parteisekretärin der Schule vernichtete meine Position. Meine scharf antimilitaristischen Auffassungen, die natürlich nicht vor menschenfeindlichen Umgangsformen innerhalb der NVA Halt machten, stießen bei der „150prozentigen“ Genossin, deren beide Söhne begeisterte Offiziere waren, auf machtvolle Ablehnung. So etwas wie mich konnte man nicht auf sich entwickelnde Persönlichkeiten loslassen.
Als sich mein Scheitern immer klarer abzeichnete, schien mir die Konsequenz klar: Ich war im Kreis der Versager gelandet. Meiner damaligen Partnerin (und dann langjährigen Ehepartnerin) verdanke ich die Chuspe, mich kreuz und quer, also auch aufwärts zu bewerben. Ich wollte etwas – und ich bekam schon wieder eine Chance. Ohne recht zu ahnen, was mich erwartete, landete ich im Bildungsbereich eines Außenhandelsbetriebes.

Montag, 25. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (16)

Später musste ich mich bei mehreren Zuhörern fast entschuldigen. Ich hatte nie behauptet, dass dies tatsächlich Erlebte typische Erscheinung des DDR-“Sozialismus“ gewesen sei. Aber es war mein konkretes Erleben, das letztlich für die krummen Wege meinen weiteren Lebensweg bestimmend geworden ist.
Zu jener Zeit war ich fest verbunden mit einer Abiturientin aus Berlin. Die hatte außer vielleicht am „Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion“ noch nie einen Arbeiter gesehen (Vater Mediziner, Edelgrundstücksbesitzer usw.). Aber sie hatte einen Staatsbürgerkunde-Unterricht nach Lehrbuch „genossen“. Ergebnis: Zum einen „wusste“ sie, was und wie die Arbeiterklasse ist – und demzufolge nicht ist – und zum anderen war ihr klar, dass jemand, der behauptete, so etwas Unmögliches wie ich erlebt zu haben, nur ein Klassenfeind sein konnte. Nun ist es allgemeinmenschlich schwer zu verkraften, wenn man sich von Schmerzen geplagt vom Zahnarzt kommend, sagen lassen muss, man könne im Augenblick keine Schmerzen haben. Nun war ich ja immer sehr kritisch gewesen. Dass ich mir von jemandem, der keine Ahnung hatte, nicht nur sagen lassen sollte, was ich erlebt haben konnte, sondern auch, dass ich ein „Klassenfeind“ war, weil mir gerade Anderes widerfahren war, noch dazu von meiner Bettgefährtin, reizte meinen Widerspruchsgeist. Ich nicht auf der Seite des Sozialismus?! Du wirst schon sehen! Vielleicht bin ich bald selber Staatsbürgerkundelehrer – ich weiß dann wenigstens, wovon ich spreche. Es war nicht nur ein Vogel, den ich gezeigt bekam. Dass ich das spontan ernst meinen könnte, war meiner Partnerin nicht klar.
Aber gleich in der nächsten Woche lauerte ich am Arbeitsplatz nur auf eine Gelegenheit, allein das Telefon benutzen zu können. Die Nummer der Hochschule, die die von mir angestrebte Fachkombination Deutsch und Staatsbürgerkunde anbot, hatte ich mir bereits herausgesucht. Kaum war ich ungestört, wählte ich die Nummer und fragte, ob noch ein Platz frei sei. Deutsch / Staatsbürgerkunde nicht, aber Staatsbürgerkunde / Deutsch ja. Ja, nehm ich auch, wenn´s nur so geht. Was muss ich denn tun. Einen Antrag ausfüllen und zum Arzt und man schicke mir alles zu.
Das war im August. Im September desselben Jahres begann ich mein Lehrerstudium.
Ich will nicht behaupten, dass man dies in irgendeiner Weise verallgemeinern könnte. Ich kann nur schlicht feststellen, dass es bei mir genau so gewesen ist. Die anderen Studenten hatten sich natürlich ein Jahr früher beworben und waren im Mai bereits zu einem Jugendlager zusammengetroffen.
Die Eile enthielt auch einen Bumerang, der dann auf mich zurück fiel: Jeder zukünftige Lehrer wurde gründlich vom Hals-Nasen- und Ohrenarzt gecheckt, nicht nur, aber auch auf die geeigneten Stimmbänder. Die waren aber aufgrund eines Bronchialinfekts bei mir in jenem August nicht zu begutachten. Der Arzt schrieb also, dass er keinen Befund erstellen könne. Während des Studiums stellte sich dann heraus, dass ich nicht hätte zugelassen werden dürfen. Aber da ich nun einmal schon dabei war und ja wollte, dann könne ich auch weiter machen.
Wenn ich heute von den vielen Bespitzelungen höre, muss ich laut lachen: So schnell, wie in meinem Fall eine absolut unbürokratische Lösung möglich gemacht worden war, war zu dieser Zeit technisch keine Akte anzufordern und zu sichten.  

Mein ganz individueller Kommunismus (15)

Dies etwa war die Ausgangssituation zu jenem Wandel, den ich mehrmals zu erzählen versuchte … allerdings immer mit wenig Erfolg bzw. Schaden für mich.
Es reichte natürlich nicht, dass ich eine Flasche auf den Tisch stellte. Spätestens beim zweiten Mal war ich gefordert, wenigstens mit anzustoßen. Trotz aller Vorbehalte gegeneinander kamen bald Gespräche zustande. Eines dieser Gespräche drehte sich um Verschraubungen für Ventile, von denen bei mir buchtechnisch eine beachtliche Anzahl vorrätig waren, von denen die Arbeiter aber behaupteten, es seien keine da. Nach einigem Hin und Her stellte sich heraus, dass die Gesuchten bei einem der Aggregate vor der Montage gegen die Originalverschraubungen ausgetauscht würden. Die laut Plan passten nämlich nicht. Je länger wir uns unterhielten, umso spannender wurde die Angelegenheit. Konnte es sein, dass da irgendwo ein Fehler vorlag?
Es lag einer vor. Der war schon bei der Projektierung entstanden. Plötzlich ahnten wir, dass wir einen Punkt entdeckt hatten, wo wir sowohl Arbeitszeit als auch Material einsparen konnten. (Die abmontierten nicht passenden Verschraubungen wurden als Abfall behandelt.) Da es weder leicht war, den schuldigen Punkt zu finden noch fachgerecht zu formulieren, wo was verändert werden musste, wuchs eine kleine Forschungsgemeinschaft zusammen. Dieselben Menschen, die während der ganzen vorangegangenen Zeit sich eigentlich als gesellschaftliche Schmarotzer aufgeführt hatten, empfanden sich plötzlich als Miteigentümer, die selbstverständlich sparsam mit ihrem Volkseigentum umgehen wollten. Man erkannte sie kaum wieder. Aus den Säufern wurde eine Jugendbrigade. Das war alles ihrs. Unser Staat, unsere Gesellschaft, Unseres, was wir verbessern konnten.
Nun ja, die Angelegenheit geriet „natürlich“ in die Fänge sozialistischer Bürokratie. Plötzlich hatte eine bedeutungslose Kollegin, die das „Büro für Neuererwesen“ gewesen war, etwas Reales zu tun. Und was sie zu tun hatte, war etwas, was dem Ideal des Staates so nahe gekommen war: Dort hatten sich doch tatsächlich richtige Arbeiter mit Angestellten und Angehörigen der Intelligenz zusammengefunden, um einen Arbeitsablauf zu verbessern. Das war zwar spontan geschehen. Von nun an sollte es einen planmäßigen Rahmen bekommen. Wir sollten gezielt und geplant Verbesserungen erarbeiten. Wir erstellten auch tatsächlich ein Jugendobjekt. Allerdings bestand dessen Hauptkreativität in der Fixierung eines Nutzens, der nie eintreten konnte. Ich weiß nicht, wie klar das den Einzelnen war, aber die Sache begann mir peinlich zu werden. Die planorganisierte Nützlichkeit verwandelte sich schnell in eine Form des sich in die Taschen Lügens. Ich suchte im Unterbewusstsein bereits ein Fluchtmöglichkeit. Sofern die Angelegenheit positiv blieb, dann insoweit, als dass der Spaß am Tüfteln nicht gleich wieder verschwand. Es war ein Keim aufgegangen, dass man am kleinsten Nebenschauplatz positiv in ein großes Ganzes eingreifen konnte – und dieses große Ganze war UNSERE Gesellschaft.

Samstag, 23. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (14)

Nun hat so eine „Planung“ ja Konsequenzen: Die unmittelbare Montage sollte eigentlich jeweils dann beginnen, wenn alle zu montierenden Teile am Montageplatz vorlagen … EIGENTLICH eine sinnvolle Vorgehensweise. Zur detaillierten Planung gehörte also auch, die Kleinteile nach dem Ausgangsplan aus dem Lager in die Montage zu bringen. Gelegentlich geschah dies auch. Das war natürlich schädlich für die Lagerarbeiter: Im seltensten Fall wurde ja nach dem Ursprungsplan produziert. Wer also gut gearbeitet hatte, musste doppelt arbeiten – weil die planmäßigen, aber nun nicht verwendbaren Verschraubungen usw. nun im Weg waren.
Das Ergebnis bei den Lagerarbeitern war eine pervertierte Form des Dienstes nach Vorschrift: Sie rührten nichts mehr an, wovon sie nicht wussten, dass auch die anderen Bauelemente vollständig vorlagen. Da diese Bedingung an mindestens den ersten 22 Tagen jedes Monats in fast keinem Fall erfüllt war, rührte sich in meinem Lagerbereich in dieser Zeit so gut wie nichts. Da es aber ausgeschlossen war, immer drei Wochen hintereinander tatsächlich NICHTS zu tun, wurde saufend und Karten spielend beieinander gesessen.
Dieses System hatte noch weitere für die Lagerarbeiter angenehme Nebeneffekte: An den letzten Tagen der Monate „brannte die Luft“, da musste also all das bis dahin Versäumte mit den nun tatsächlich vielleicht vorhandenen Teilen nachgeholt werden. Denn letztlich sollten die Pläne ja sogar übererfüllt werden. (Irgendwelche sind bestimmt wirklich übererfüllt worden.) Die Arbeit war nun in regulärer Arbeitszeit nicht zu bewältigen. Da wurden also Sonderzahlungen locker gemacht, nur damit dich die Arbeiter an Wochenenden im Betrieb sehen ließen – neben den „normalen“ Zuschlägen, versteht sich.
Ich übertreibe hier kaum. Diese Situation war der Normalzustand, als ich meine Arbeit im Produktionsbetrieb aufnahm. Naiv wie ich war, versuchte ich nun, das, was ich umsetzen sollte, umzusetzen. Stieß auf lauter Unmöglichkeiten. Musste, um etwas (oder jemanden) zu bewegen, die Arbeiter mit Wodka Lunikoff „bestechen“. Vieles wurde auf dieser Basis möglich. Von Abteilungsleitern aufwärts war „unten“ normalerweise niemand zu sehen.
Man könnte meine Eindrücke „Kulturschock“ nennen. Irgendwie verging mir beim Anblick der die Arbeitszeit totsaufenden Kollegen die Illusion von der herrschenden Arbeiterklasse an der Macht, die da am „Volkseigentum“ … ja, was? Sie erwarteten auf ihre Weise den nächsten „Schicksalsschlag“, als was der nächste „Plan“ für sie erschien.
Wie gesagt, ich brachte den Lunikoff mit, wenn ich etwas wollte und die Arbeiter, überwiegend junge Leute kümmerten sich dann um „mein“ Problem. Das wir voneinander nicht besonders viel hielten, verheimlichten wir nicht, aber der „Sesselpfurzer“ kümmerte sich eben ...

Freitag, 22. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (13)

Dass ich mich bei der Kosmetik-Reklamationen nicht wohl fühlte, wird man hoffentlich verstehen. Dass ich nun auf einer Planstelle, die auf den sperrigen Namen „kulturpolitisch-künstlerischer Mitarbeiter beim Kreiskabinett für Kulturarbeit … für künstlerisches Wort“ alles besonders gut machen wollte, sieht man wahrscheinlich auch ein. Aber wer das Vorangegangene gelesen hat, ahnt es schon: Der erste Auftritt bei einer höheren Charge im Kreis, konkret beim Direktor des einzigen Gymnasiums, führte sofort zu einer handfesten Beschwerde: Arrogantes Auftreten, was ich mir alles angemaßt hatte …
Meine Vorgesetzte zog daraus den nicht wegzuwischenden Schluss, dass ich wohl doch etwas zu grün für die Aufgabe sei und ich mir lieber Praxis in einem Produktionsbetrieb holen solle. Heute wäre dies ein Rauswurf in der Probezeit gewesen, damals blieb mir etwa ein halbes Jahr, mir etwas Geeignetes zu suchen. Diese Zeit verbrachte ich überwiegend mit Basisarbeit bei Schreibenden und Laienkabarettisten in Betrieben und mit der Erarbeitung von Muster-Programmen zu allen möglichen Fest- und Gedenktagen. Ein besonderes Vergnügen bereitete es mir, zum „Tag der Nationalen Volksarmee“ ein expressiv antimilitaristisches Programm zu verbreiten. Es war eine besondere Genugtuung, dass nun Danksagungen an das Kreiskabinett kamen. Wahrscheinlich hatte man nichts als trockene Lobhudeleien erwartet.
Nach dieser Erfahrung landete ich in einem der Schweriner Großbetriebe. ORSTA Hydraulik war der Endfertigungsbetrieb für große hydraulische Anlagen. Ich landete in der Materialwirtschaft. Das Besondere dabei: Eine hydraulische Anlage bestand im Wesentlichen aus drei Grundelementen: einem Motor, einer Pumpe und Zubehör. Mein Blick war die Zuständigkeit für etwas Zubehör, konkret für Hydraulikventile und Verschraubungen. Vielleicht ein Zwergenblick. Aber das Problem war einfach: Es gab natürlich einen spezifizierten Plan, welche Aggregate wann in welcher Zahl zusammenzubauen gewesen wären, welche Einzelteile und Baugruppen also zu dem entsprechenden Zeitpunkt hätten zur Verfügung stehen müssen.
Antworten auf die Frage, warum sie jeweils nicht zur Verfügung standen, drangen nicht bis auf meine Ebene herunter. Dass sie nie so ankamen, wie es geplant war, merkte jeder. Da dann permanent versucht wurde, einen korrigierten Plan vorzulegen, de dann eventuell umsetzbar gewesen wäre, gab es im Laufe der Zeit eigentlich niemanden im Betrieb, der die Planung Ernst nahm. Letztlich lief alles darauf hinaus, gegen Ende der Monate an die Zahlenfront zu werfen, was dann wirklich montierbar war.
In diesem Chaos spielte meine Abteilung eine verständlicherweise mehr als untergeordnete Rolle. Jeder sah ein, dass kein Aggregat ohne die passende Pumpe und ihren Motor entstehen konnte. Wenn dann zu erahnen war, welches Aggregat Chancen hatte, tatsächlich noch im laufenden Monat gebaut zu werden, galt es, irgendwie den Kleinkram dazu zu besorgen. (Mir war so auch einmal eine abenteuerliche Ganztags-Dienstreise vergönnt, um aus tiefstem Thüringen ein einzelnes Ventil heranzuschaffen.)

Donnerstag, 21. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (12)

Es folgte eine beruflich extrem wilde Zeit. Wenn ich meine sonstigen Möglichkeiten einrechne, wäre ich mit großer Wahrscheinlichkeit in eine heutigen, also „kapitalistischen“ Gesellschaft versumpft. Meinen Lebenslauf hätte ich da wohl entweder fälschen müssen oder akzeptieren müssen, dass ich als unzuverlässig abgestempelt für die meisten Vorstellungsgespräche überhaupt nicht eingeladen worden wäre. Es mag ja sein, dass manches Scheitern auf den ersten Blick nicht als solches erkennbar gewesen war, aber mehrmals brachte ein Scheitern an einem Punkt mich eine Stufe weiter auf der Entwicklungsleiter.
Aber von Anfang an:
Es wäre mir natürlich möglich gewesen, nach Klasse 8 aufs Gymnasium zu wechseln. Diese Einrichtung hatte aber den Ruf, etwas für strebsame Mädchen zu sein. Außerdem hatte ich keinerlei über irgendein Berufsziel – und das meine ich fast uneingeschränkt. Also vielleicht mein Geld mit körperlicher, besonders handwerklicher Arbeit zu verdienen, war NICHT mein Ding. Aber positiv?
So setzte ich, richtiger meine Mutter, das einzige Mal auf „Protektion“: Mein Vater hatte sich also dafür einzusetzen, dass ich einen von drei Ausbildungsplätzen zum „Wirtschaftskaufmann mit Abitur“ bekam. Mutter und Schwester waren Verkäuferinnen, also im Handel, Vater in der Großhandelsgesellschaft „Waren täglicher Bedarf“. Die Ausbildung interessierte mich … durchschnittlich. Ich konnte ja aber nicht nichts machen. Ich war also „untergebracht“. Ich durchlief also die verschiedensten Abteilungen und Bereiche eines Betriebes, der für die gesamte Versorgung Schwerins mit alltäglichen Waren zuständig war. Während der Ausbildung versuchte ich einmal, mich für eine Laufbahn im Bereich der Schreiberei zu bewerben. Das ging natürlich schief. So wurde ich als kleine Sachbearbeiter in der Süßwarenabteilung übernommen. Kein Traumjob, aber zumindest kam ich mit den Kollegen zurecht und die mit mir. Doch das Verderben lauerte schon:
die Einberufung zum Grundwehrdienst bei der „Nationalen Volksarmee“. Um den Rang des „Ehrendienstes“ bei den „bewaffneten Organen“ für Jungen rankten sich viele Legenden. Die wichtigste: Nur wer sich wenigstens freiwillig für drei Jahre verpflichtet, bekommt einen Studienplatz. Ich hatte zwar noch immer keine Vorstellung, was ich eventuell studieren könnte, aber dass ich das irgendwann tun könnte, wollte ich mir nicht verbauen. Also eigentlich begann ich die Dienstzeit mit der Absicht nicht aufzufallen. Anstatt dessen leistete ich mir erst einen kleinen Unfall und sorgte dann mit regelmäßigen Fingern im Rachen dafür, dass ich nach einem halben Jahr sagen konnte, dem Dienst an der Waffe hatte ich mich erfolgreich verweigert. Einziges Problem: Ich war nun ein Jahr zu früh in Freiheit. Der Betrieb musste mich wieder aufnehmen (so war das halt in der DDR), aber der Platz in meiner Abteilung war besetzt. Der einzige freie Platz war … die Kosmetik-Reklamationsabteilung. Immerhin lernte ich dort, dass Haarspray garantiert den Boden pflanzenfrei machen kann. Klar, dass ich so schnell wie möglich irgendwo anders hin wollte. Ich ahnte noch nicht, welche psychischen Schäden die Armeezeit hinterlassen hatte, wie lange die Schreibblockade anhalten würde, also nahm ich noch einen Anlauf in Richtung Schreiben ...

Mein ganz individueller Kommunismus (11)

Und am Ende der 10. Klasse gab es noch eine „Offenbarung“. Meine Klasse machte eine einwöchige Abschlussfahrt. Zufälle brachten mich dabei mit einem Schüler zusammen, der durch Aufteilung seiner früheren Klasse nach der Achten zu uns gestoßen war und von dem ich kaum mehr wusste, als dass er nur jeweils sehr knapp die Klassenziele geschafft hatte. Wir unterhielten uns viel. Es begann mit einem Detail: Wir hatten beide begeistert die Folgen von „Raumschiff Enterprise“ im Fernsehen verschlungen. Das wäre ja so gewaltig nicht gewesen. Aber beeindruckend war dann das darüber hinausgehende Wissen und Denken des Jungen, sein … philosophischer Scharfblick. Klar haben wir auch viel einfach „gesponnen“. Aber wichtiger war, dass ich erstmals bei jemandem, den ich weit unter meinem geistigen Niveau eingeordnet hatte – die ganze Schulzeit hatte das so gezeigt – ein geschlossenes kluges Denksystem erlebte. Eigentlich machte er sich um die Zukunft der Welt mehr Gedanken als ich und er vermochte seine Überlegungen verblüffend klar zu formulieren. Ich bekam das Gefühl, in den letzten Jahren einen Freund übersehen zu haben, weil ich mich innerlich zu sehr über ihn erhoben hatte, um ihn zu bemerken.
Das Wichtigste für mich war die Erkenntnis, dass es extrem unterschiedliche Möglichkeiten gibt, über die ein Mensch für andere, zumindest aber für einen anderen „wertvoll“ sein kann. Schon damals begann es mir zu widerstreben, solchen „Wert“zu wichten. Warum soll jemand wegen seiner Besonderheit besser oder schlechter als ein anderer mit dessen Besonderheit sein? Vor allem führten mich unsere utopischen Zeitreisen vor eine bittere Erkenntnis: Es war ein verdammt gewöhnlicher Zufall, dass ich in meine Zeit hineingeboren war und hier mit guten Zensuren brillieren konnte. Von der Herkunft nicht privilegiert graute es mir vor der Vorstellung, in einer vergangenen Zeit zur Welt gekommen zu sein. Meine Art zu denken wäre da abfällig weggewischt worden. Nur die Fähigkeit der Muskelkraft wäre gefragt gewesen. An der aber haperte es. Oder in einer vergangenen Schule. Beim Auswendiglernen war ich schwach. Ich wäre also dort ein „schlechter“ Schüler gewesen. Wer konnte mir sagen, welche Qualitäten in 100 Jahren erwünscht waren – die ich vielleicht hätte, vielleicht aber auch nicht. Mein vorzeigbares Zeugnis war also nicht objektiv, sondern dem Zufall geschuldet, was gerade erwünscht und messbar war. Und auch da gab es breit gefächerte Unterschiede. Wir Schüler hatten uns einen Sport daraus gemacht, in den letzten Schultagen das Klassenbuch zu durchstöbern. Dort trug dann jeder Lehrer für jeden Schüler die Kopfnoten ein: Betragen, Mitarbeit, Ordnung … Gesamtverhalten. Bei „Betragen“ erhielt ich vom Klassenlehrer Dreien oder Vieren. Nicht wenige andere Fachlehrer werteten mein Verhalten „sehr gut“. Aber ich war doch derselbe Mensch?! Nur eben nicht pflegeleicht und normgerecht.
Klar war, ich fiel aus dem Raster. Dafür gab es mehrere Erklärungsmöglichkeiten: Entweder war das Raster falsch oder es war falsch, mit einem „Raster“ zu arbeiten oder … ich hätte mich endlich richtig anpassen müssen an das, was Andere von mir erwarteten. Gelegentlich versuchte ich das ja. Aber es ging nicht. Ich hätte mich selbst verleugnen müssen.

Dienstag, 19. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (10)

Nachher erfuhr ich, dass einige der so eifrig engagierten Autoren für das Ministerium für Staatssicherheit Berichte geschrieben haben. Sie hatten viele Berichte zu schreiben. Nein. Ich finde es nicht gut. Menschlich traurig. Aber bei denen, von denen ich es hörte und die ich selbst erlebt hatte, wusste ich: Aus niederen Beweggründen, z. B. weil sie einen „Job“ machten, haben sie es nicht getan. Sie waren wirklich überzeugt, mit ihrem Tun dem „Sozialismus“ zu nutzen. Dass sie ihm letztlich eher schadeten, hätte ich damals nicht verstanden.
Aber zwei Erlebnisse brachte meine „normale“ Schulzeit noch, die mein Menschenbild nachhaltig veränderten.
Bis zur 8. Klasse hatten wir eine außergewöhnliche Mitschülerin unter uns, die dann in die „erweiterte Oberschule wechselte, also das, was heute „Gymnasium hieße. Sie war „rundum“ entwickelt. Es gab also nichts, was sie nicht wenigstens gut gekonnt hätte. Sehr überwiegend sehr gut, wenn auch nichts „genial“. Den besseren Jungen waren die genialischen Ausrutscher überlassen. Zwar war ich ehrgeizig und wäre lieber besser gewesen. Aber irgendwie war mir klar, mich nicht zeugnisrelevant wesentlich verbessern zu können. Das wäre Zufall gewesen. Mir blieb nur eine Freude: Mitschüler, die eigentlich „leistungsschwach“ waren, zu guten Leistungen zu coachen. Also sie nicht abschreiben lassen, sondern sie zu Ergebnissen zu führen, die „man“ ihnen nicht zutraute. Das Gefühl war kaum zu überbieten, wenn ich mich heimlich als „Vater“ einer guten Note Anderer fühlen konnte. Da konnte mir niemand etwas vorwerfen – Egoismus, Strebertum, was auch immer ...
In der Neunten trimmte ich also bei einer solchen Gelegenheit einen Mitschüler, der ein total gestörtes Verhältnis zur Mathematik hatte. Nun fiel ich in dem Fach immer noch aus dem Rahmen: Extrem langsam beim Schreiben konnte ich es mir nicht leisten, die einzelnen Teilschritte zu lernen und zu verwenden – ich verwendete abgekürzte Wege, die bei „normalen“ Schülern nicht akzeptiert worden wären. Mir waren umfangreiche Lernschritte suspekt. Was also sollte ich nun dem Mitschüler erklären? Den vorgegebenen Weg Schritt für Schritt? Ich entschied mich für die logischen Gedankenfolge, die ich entwickelt hatte. Immer wieder testete ich, was davon „hadten geblieben“ war. Dann gemeinsames Rechnen. Bei jedem kleinen Gedanken fragte nun er unsicher nervend „Soooo?“ Bis ich dann irgendwann erklärte, er bekäme jetzt eine Aufgabe, die er bis zum Schluss allein lösen müsse. Nachher prüften wir dann, warum eventuell was falsch sei. Mehrmals versuchte er, mich zu einem Blick auf sein Blatt zu animieren. Dann bot er mir eine Lösung. Beim ersten Blick schrak ich zurück. 14 Schritte waren normal, er hatte sechs gebraucht, sodass ich erst rief, so ginge es nicht … Bis ich feststellte, dass er das, was ich ihm an Zusammenhängen erklärt hatte, so umgesetzt hatte, dass ein neuer Rechenweg entstanden war. Den hatte er entwickelt. Plötzlich zerfiel alle meine „genialische“ Überlegenheit. Nur Geduld war geblieben, sich einem Problem eben anders als „standardisiert“ zu nähern. Ein „schwacher“ Schüler war also eigentlich keiner, sondern nur einer, der andere Anregungen zum Denken brauchte, als er sie üblicherweise erhielt.In diesem einen Fall hatte ich solch eine Anregung gefunden. Welch ungeheures Potential musste in den Menschen stecken, wenn man sich ihnen geduldig annahm! (Ich hatte in der 8. Klasse noch einen Mitschüler, der schlechte Zensuren schreiben musste – seine Mutter verlangte das – damit er am Schuljahresende abgehen und Geld verdienen durfte.) Erstmals erschien mir „Leistung“ als Produkt von Zufällen und nicht als „guter“ oder „schlechter“ Schüler.

Mein ganz individueller Kommunismus (9)

Eine sehr wilde, individualistische Reise durch die Weltliteratur veränderte sehr unbemerkt und unterschwellig meinen „Blick“. Ich war eigentlich „nur“ ein Junge, der zu viel geschmökert hatte. Zwar in keinem Karl May, aber bei Lieselotte Welskopf-Henrich, Jules Verne und überwiegend in Dingen, die nicht für einen 11-, 12jährigen gedacht waren.
Und die DDR bot in der Folgezeit besondere Chancen zur Befriedigung meines wirren Kunsthungers: Jugendstunden und Theaterkreise. Auf die Mischung kam es an. So wirr, wie ich ahnungslos vor der „Weltkultur“ stand, so gemixt wurden uns monatlich verschiedenartige Erlebnisse vermittelt. Opern, Schauspiele, Ballett, Heiteres … Das hatte einen eigenen Reiz. Nein, keinen hoch kulturellen. Da bemühte sich unsere Musiklehrerin vergeblich um eine vielleicht angemessene Einführung. Aber die ganze Klasse ging gerne auch in Kunstgenüsse, die sie kaum verstand, denn was hätte es für einen besseren Vorwand gegeben, abends „die Sau raus lassen“ zu dürfen? Nicht jedem wäre mit 14 erlaubt worden, nach 22 Uhr durch die Straßen zu ziehen. Aber nach dem Theater …
Wie viel es bei den einzelnen Positives bewirkt hat – wer vermag das einzuschätzen? Aber jeder hatte die Chance, seine Sinne zu schulen. Und das Staatstheater war gut. Dass dies in irgendeine Weise ein „soziales“ Problem sein könnte (außer im Sinne unseres Gruppenzusammenhalts), wäre keinem eingefallen. Die Eintrittskarten kosteten kaum mehr als der Druck der Eintrittskarten gekostet hatte …
Dann setzte meine erste „Schreibphase“ ein. Der Junge wollte Gedichte verfassen. Sehr weise das Wesen der Welt erklärend und so hölzern holpernd, dass wirklich nur ich selbst von mir überzeugt sein konnte. Aber es gab die verschiedensten Fördermöglichkeiten. Zwar war es natürlich schon komisch, in einem Zirkel schreibender Arbeiter der deutschen Post dabei zu sein, in dem kaum noch ein Mitglied etwas mit der Post zu tun hatte. Aber ich konnte verschiedene Denk- und Betrachtungsweisen beobachten. Heute bestreitet die Leiterin des Zirkels schreibender FDJler beim Haus der Jugend (jede Einrichtung, die etwas auf sich hielt, förderte verschiedene kulturelle Aktivitäten), dass sie sooo laut ihre Begeisterung geäußert hatte, als ich zum ersten Mal kein „Gedicht“ sondern eine den erzählenden Helden (der viel Ähnlichkeit mit mir hatte) auf die Schippe nehmende kurze Erzählung vortrug. Das, genau das möge ich fortführen (und nicht diese unpoetischen Gedichte). Da aber war ich schon das erste Mal zum zentralen Poetenseminar der FDJ gewesen – in den Räumen des Schweriner Schlosses und draußen in der Neubausiedlung. Begegnungen mit kritischen „richtigen“ Schriftstellern, engagierten Menschen, die alle dafür eintraten, schärfer hinzusehen, „mit dem Herzen“ zu sehen, sich einzubringen. Begegnungen wurden organisiert, die uns die Widersprüche von Anspruch und Wirklichkeit dessen, was Sozialismus zu sein für sich in Anspruch nahm, vor Augen führte. Fast noch Kinder erlebten wir die zerplatzende Illusion zukunftsfähigen Bauens. Aus der Not geboren, schnell ein Problem zu lösen, also jedem, der Wohnraum brauchte, auch welchen zu geben, wurden Siedlungen auf die Wiese gesetzt, die nach etwa 25 Jahren planmäßig durch etwas Neues, Richtiges ersetzt werden sollten – was dann natürlich nie geschah. So erzählte es einer der Projektanten des Dreesch.

Montag, 18. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (8)

Solche Erlebnisse werden heute zum „Zwangstopfen“ verballhornt. Unabhängig von der tatsächlichen Bedeutung unserer gesammelten Eicheln bleibt doch die Frage, wie verdammenswert es sein soll, dass Kindern das Gefühl der Solidarität vermittelt wird. Ganz unmittelbar erlebten wir, dass es schwächere Wesen gibt, die durch unsere solidarische Hilfe überlebten.
Auch solche Solidaritätsaktionen wie die für Angela Davis hatten zwei Seiten: Die agitatorische, dass doch eine Kommunistin unschuldig sein müsse (was sich im konkreten Fall juristisch belegen ließ), aber auch eine „rein“ menschliche: Stellt euch schützend vor Menschen, die zum Opfer legaler (oder halb legaler) Ungerechtigkeit werden könnten. Eine gute Sache wird doch nicht allein dadurch „schlecht“, wenn sie mehr oder weniger „staatlich verordnet“ wird. Ich finde es heute peinlich, wenn ausgerechnet mit diesem Ausdruck „Linke“ den DDR-Antifaschismus verunglimpfen. An dem System des (nicht) „realen Sozialismus“ gibt es Unmassen an Kritik-Gründen. Dass sich ein ganzes Volk mit den wenigen aktiven Antifaschisten, die das faschistische Terrorregime überstanden hatten, identifizieren durfte, halte ich für einen dankenswerten Zug.
Wie gesagt, ein Großteil der Möglichkeiten, die uns Kindern vor die Nase gedrückt wurden, passten nicht zu meiner sich entwickelnden Persönlichkeit:
Fahnenappelle waren mir kleinen Anarchisten schon des Einordnens wegen suspekt. Als dann im Unterricht Friedrich Wolfs „Kiki“ zur Lektüre gehörte, wurde diese Geschichte sofort eine meiner allerliebsten. Die „Haltung“ des Hundes, die „Würde“ des Zwangsappells mit seinem Jaulen lächerlich zu machen, entsprach so vollständig meinem Verständnis – ich starb sozusagen im Kreis der trauernden Gefangenen und fühlte mich zugleich als eine der ihren. Dabei begriff ich erst viel später, dass die „Bösen“ keine „echten“ Faschisten gewesen waren, sondern sich ihnen Andienende. (Allerdings hielt sich die Zahl der militaristischen und Appell-Veranstaltungen in engen Grenzen, auch und vor allem später.)
Gemeinschaftliches Basteln und Malen und Sport waren mir der blanke Horror. Weil ich es nicht konnte, wollte ich es nicht. Als ich diesen Zusammenhang später immer besser verstand, verstand ich auch meine Mitschüler immer besser, die Grauen vor der Mathestunde empfanden, weil sie mit lauter Unlösbarem zusammenstießen.
Dafür war da Pionierhaus, die Pionierbibliothek für mich das Paradies. Das Pionierhaus wegen seiner vielen Möglichkeiten, die man auch einfach auslassen konnte, die Bibliothek … Ich glaube, in der 5. Klasse hatte sie mir kaum noch Neues zu bieten und ich besuchte eine „normale“. Der für mich normale Leseschnitt waren 4-5 „richtige“ Bücher pro Woche. Ich las also kaum Kinderbücher, sondern reiste in die Welten von Maupassant, Balsac, Dickens und vielen anderen. Ich hatte zwar absolut keine Ahnung, was eine Nutte sein könnte – ich empfinde heute weder mein Unwissen als Mangel als auch, dass es in meinem Schwerin real keine gab – aber empfand doch tiefe Abneigung gegen Menschen, die auf der einen Seite ihre Mitmenschen gebrauchten … und die dann dafür dünkelhaft verachteten. („Fettklößchen“)

Sonntag, 17. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (7)

Aber noch etwas zeitlich zurück – zum einen, weil mir das auf´s Stichwort solidarisch einfiel, zum anderen, weil sozusagen kindlich-naive Keime meiner späteren „kommunistischen Visionen“ dabei gelegt wurden.
Aus dem, was ich bisher erzählt habe, müsste klar geworden sein, dass ich nie ein extrem kommunikativer Typ gewesen bin. Es gab aber eben Situationen, wo positive Gefühle vermittelt wurden. Dazu gehörten einige der Veranstaltungen der Kinder- und Jugendorganisationen.
Nein, nicht die kirchlichen. Meine Mutter schickte mich zur „Christenlehre“ in die Kirche, wo uns Geschichtchen erzählt wurden, und wenn wir brav waren, wurden wir mit Bildchen (heute würde man wohl „Sticker“ sagen) belohnt wurden. Für die Anregung meiner Fantasie waren diese Nachmittage wahrscheinlich sogar positiv. Aber für mich 8-/9-jährigen war es abstoßend, dass der Pfarrer (?) sie uns Kindern als wahr darbot. Ich hätte da noch nichts von der „Wahrheit“ von Gleichnissen verstanden, empfand es aber als Beleidigung, dass jemand erwartete, ich würde Märchen für Wirklichkeit nehmen. Das war dann Grund für entschiedenen Protest bei meiner Mutter und fast das Ende meine Kontakte zu kirchlichen „Würdenträgern“. (Später empfand ich die Gastfreundschaft von Kirchenleuten auf meinen Tramptouren als wohltuend.)
Anders war das bei manchen Pioniernachmittagen. Die nachhaltigsten waren jene Ausflüge, bei denen wir Eicheln und Kastanien für die Tierparktiere (und zum Basteln) sammelten. Keine Ahnung, ob unsere Eicheln den Tieren dort wirklich das Überwintern erleichtert haben. Heute würde ich sagen, das war auch nicht das Wichtigste. Viel wichtiger war etwas Anderes: Wir hatten das Gefühl, etwas Nützliches, ja Wertvolles zu tun, was sogar richtig Spaß machte. Das heißt, das Sammeln der Eicheln (und das Werfen nach Anderen) hätte auch OHNE einen höheren Sinn Spaß gemacht, es war ein vergnüglicher Zeitvertreib, das Gefühl, sozusagen unserem Patenschwein das Leben zu erhalten, machte uns stolz auf eine eigene Leistung. Ich hätte da nicht an „Kommunismus“ gedacht, aber hat man nicht auch als Erwachsene Anspruch auf kindliche Freude an der eigenen Nützlichkeit? Wird sie einem nicht nur durch die Erfahrung von „allgemeinem“ Egoismus vergällt? Als positive Erfahrung haftet so ein Erleben natürlich nur (?) dann, wenn man seinen Erfolg greifbar gemacht bekommt. Wir waren natürlich eifrige Tierparkbesucher, wo uns der Nutzen unseres Tuns von kompetenten Personen bestätigt wurde. (Mir scheint es selbstverständlich, das Kinder, denen solche greifbaren Nützlichkeitserlebnisse versagt blieben, tendenziell ein Stück weiter zu individualistischen Egoisten „erzogen“ werden – ohne eigentlich erzogen zu werden.)  

Freitag, 15. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (6)

Die deutsch-deutsche Sicht stammte sowieso nicht aus Schulunterrichtsquellen. Schwerin war glücklicherweise kein „Tal der Ahnungslosen“. Schon früh bezog ich die Nachrichten aus alle Welt nicht aus der „Aktuellen Kamera“ sondern von der „Tagesschau“. Allerdings hatte ich bereits gelernt, dass es keine „Nachrichten“ an sich gibt. Mit etwas kritischem Blick gab es dort tatsächlich das zu entdecken, was der so verschrieene „Sudel-Ede“ Schnitzler aus den Westsendungen extrahierte. An der Stelle war ich sicher ein Außenseiter: Der Typ fischte journalistisch gekonnte in der trüben Brühe der anderen Seite – und mir schien logisch einleuchtend, dass das Salz (grins: Glutamat usw.), das vom Gewicht her den kleinsten Teil solcher Brühe ausmacht, doch das Wesen der ganzen ausmacht.
Ganz unschuldig am Verständnis „kapitalistischen“ Denkens war sicher auch nicht, dass alle Verwandtschaft im Westen lebte. Langsam der kindlichen Überheblichkeit entwachsend entwickelte ich ein feines Gespür für Herablassung und Überheblichkeiten anderer Leute. Es mag ein Stück Selbsthass gewesen sein, von fremden Hochnäsigkeiten besonders stark abgestoßen zu sein.
Dazu kamen die Westpakete. In meine Erinnerung eingebrannt bleibt der Geruch ranziger Rama. Es waren noch mehr „Lebensmittel“ drin, aber auch Sachen zum Anziehen, die schon (ab)getragen waren. Ich empfand es als beleidigend, sah zwar ein, dass Geschwister und Eltern Beziehungen zueinander haben … aber sah eigentlich nicht ein, warum das Zeug nicht zurückgewiesen worden war. Meine Mutter war eine kriegspragmatische Frau. Sie konnte immer alles gebrauchen, filterte Notwendiges aus ihrer Verkäuferinnen-Tätigkeit und unserem Garten heraus, sodass wir nicht nur keinen Hunger kannten, sondern uns ausgesprochen abwechslungsreich ernährten (und auf ranzige Margarine bestimmt nicht warteten). Erst viel später erfuhr ich dann die Hintergründe jene Sorge für uns armen „Zonenbewohner“:
Meine Großeltern (also die Eltern meine Mutter) lebten in kleinbürgerlichen Verhältnissen in der Nähe von Breslau. Dies reichte in der 20er Jahren zu einem kleinen Häuschen. Dann kam die Flucht. Im Westteil Deutschlands wurden sie Flüchtlinge, im Ostteil Mitbürger. Als Flüchtlinge bekamen sie für ihren verlorenen Besitz eine Entschädigung – diese nahmen sie „treuhändlerisch“ auch für die Verwandte außerhalb der „freien Welt“ entgegen. Akribisch wurde aus diesem „Treuhandvermögen“ meiner Mutter durch meine Tante die Paketware abgerechnet – und natürlich die Pakete wurden als Unterstützung der bedürftigen Verwandtschaft in den Ostgebieten steuermindernd (pauschal, Masse beachten) geltend gemacht. Vom Ergebnis war letztlich eine „Geldwäsche“ zu Gunsten meiner Tante gelungen. Man hätte es Beschiss nennen können. Zumindest solidarisch (grins) war es nicht.

Donnerstag, 14. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (5)

Sie verführte mich anfangs zu einem Trugschluss: Voreiliger Weise dachte ich, so sei politische Bildung. Im Geschichtsunterricht wurde ich eines Besseren belehrt.
Der Geschichtslehrer war ein sehr autoritär auftretender Mann. Er gehörte zu den wenigen Lehrern, die nicht bereit waren, ein positives Verhältnis zu unserer Klasse zu entwickeln. Ich will dabei nicht einmal behaupten, dass er einem unserer Mitschüler verübelte, dass der ihn bereits in der 5. Klasse laufend korrigierte, weil er sich da sehr viel Wissen über die Urgesellschaft angeeignet hatte, und wir als Mitschüler zum ersten Mal erlebten, wie ein Schüler dem Lehrer Fehlbarkeit nachzuweisen versuchte. Nein, diese Lehrer hatte eine große Liebe: seine geometrischen Tafelbilder. Mit feine Schrift verteilte er über die ausgeklappte Tafel (mitunter einschließlich Rückseite) Kästchen, zwischen denen er Pfeile fliegen ließ. Vorher – nachher, Ursache – (Anlass) – Wirkung …
Extrem schematisch, obwohl nicht einmal undialektisch. Von der Ursache ein dicker Pfeil zur Wirkung und darunter dann der dünne Pfeil, der besagen soll, was eigentlich Folge war, wirkte dann verändernd auf die ursprüngliche Ursache zurück.
In diesem Fach wurde erstmals laut das Wort „Kommunismus“ ausgesprochen.
Nun war ich sozusagen mathematischer Logiker. Über den Begriff wusste ich wenig. Eigentlich nur „klassenlose Gesellschaft“, in der es „keinen Staat“ gäbe. Mit Klassen konnte ich wenig anfangen, Staat aber, da gehörten also mindestens alle die Gewaltinstrumente dazu. Die hat jeder, um sich selbst (gegen den / die Anderen) zu entwickeln. Würde also eine Seite ihren „Staat“ verschwinden lassen, wäre der Weg der anderen Seite frei, die eigene Macht zu erweitern. Also kann es einen „Kommunismus“ auf der Welt auf jeden Fall nicht geben, wenn es zugleich noch Kapitalismus gäbe.
Die Schlussfolgerung habe ich auf jeden Fall ausgesprochen, zur logischen Herleitung kam ich nicht mehr ganz. Zu meine Wortwahl kann ich natürlich nichts mehr sagen. Aber auf jeden Fall bekam ich das Wort verboten. Ein Schwall von Flüchen wurde über mich ausgeschüttet. Die übelste Bezeichnung, mit der ich versehen wurde, mit der ich aber nichts anzufangen wusste, war „Trotzkist“. Offenbar war das also noch etwas Schlimmeres als Faschist und ich hatte gerade die schlimmstmögliche Feindpropaganda in den Raum geworfen.
Alles nur wegen einer absolut primitiven logischen Schlussfolgerung, hinter der ich, wenn auch mit einem breiteren Spektrum von Begründungen, ich auch heute noch stehe. Wenn ich dem entsetzten Doggen-Lehrer noch an den Kopf geworfen hätte, dass also der entfaltete „Kommunismus“ keine Politik der friedlichen Koexistenz kennen könne – rein logisch, weil dies ja eine Beziehung zwischen Staaten sei, die es per Definition nicht mehr gebe – wäre entweder er mit dem Notarzt oder ich mit Ledermantelmann-Begleitung aus dem Klassenraum geführt worden.
Natürlich habe ich mir bei diesem Lehrer eigene Schlussfolgerungen aus bewertbaren Fakten verkniffen.

Mittwoch, 13. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (4)

In der 7. Klasse begann dann unsere vorsätzliche „Bewusstseinsbildung“ in Form des Staatsbürgerkunde- und der Schwerpunktsetzung im Geschichtsunterricht. Rückblickend muss ich allerdings einräumen, dass die ethischen Normen, die nun Namen bekamen, bereits vorher geprägt waren, weil sie uns vorgelebt oder eben nicht vorgelebt wurden. „Gut“ oder „Böse“ ist sozusagen sowohl greifbarer als auch abstrakter als „Sozialismus“ und „Kapitalismus“. Die Leistung der entsprechenden Unterrichtsfächer bestand also nicht darin, irgendetwas ideologisch vermittelt zu haben. Allerdings wurde z.T. Vorhandenes gefördert bzw. gebremst.
Vielleicht hätte ich ein freundlicheres Verhältnis zur „Nationalen Volksarmee“ der DDR gewonnen, aber die Verhältnisse waren eben nicht so. Meine Sportbegeisterung war nie so groß, dass mich da hätte etwas verlocken können. Emotional ein egozentrischer Anarchist waren mir jegliche Beziehungen, die auf unterordnenden Gehorsam beruhten, zutiefst zuwider. (In einem krankhaften Anfall von Übermachtsbedürfnis spielte ich meinem engsten Freund gegenüber einen SS-Mann: Ich zwang ihn, den schwarz Gelockten durch brutale Gewalt dazu „Ich bin eine dumme Judensau!“ auszurufen, um frei zu kommen … und ich könnte nicht sagen, vor wem ich mich nachher mehr ekelte: vor ihm, der sich derart demütigen ließ, oder vor mir, dass ich zu so etwas fähig gewesen war …) Rund wurde meine Grundhaltung zum Thema Armee dann eigentlich erst dadurch, dass es in der Klasse bei den Auseinandersetzungen mit der Staatsbürgerkundelehrerin einen Schüler gab, der sich sichtlich bemühte, die Aussagen zu finden, die voraussichtlich die Lehrerin zu hören hoffte. Dieser Speichellecker, dessen geistiges Niveau wenig herausragend gewesen war, strebte an, Offizier zu werden.Ich konnte ihn mir als Typ einfach zu gut als Stiefel in einer preußischen Untertanensoldateska vorstellen. (grins: Reine Vernunft ist diese „Logik“ nicht, ich weiß …)
Aber diese Lehrerin hat auf ihre Weise bei mir etwas bewegt. Im Nachhinein tut sie mir noch Leid. Es war mir ein teuflisches Vergnügen, den ungeliebten Rotlicht-Unterricht zu sprengen. Hier konnte ich die ganze spitzfindige Rafinesse boshafter Sprachanalysetechnik an die Front werfen. Ich hatte die meisten Schulbücher zu Beginn der Unterrichtsjahres schon im Überflug gelesen. Im Staatsbürgerkunde-Lehrbuch fiel mir dabei etwas auf: Außer bunten Bildchen gab es Kästchen mit Zitaten der „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus, die ich sozusagen als die Verkündigung Moses ansah (so waren sie wohl auch ausgesucht und gemeint), während der eigentliche Text das profane Bla-Bla war. Da Gute daran: Es ließen sich in dem profanen Zeug Widersprüche zu Gottes, Pardon: Marxens, Kernsätzen in den Kästchen entdecken. Also bereitete ich viele Stunden vor, die ich sprengte mit der Absicht zu beweisen, dass das, was wir als wunderbare Wirklichkeit unserer größten DDR alle Zeiten erklärt bekommen sollten, gar nicht das war, was der große Marx sich als sozialistische Gesellschaft vorgestellt hatte.
Alle intelligenten Mitschüler verfolgten die Diskussionen mit Vergnügen und unterstützten mich nach bestem Wissen, die weniger intelligenten freuten sich, dass die Stunden nicht als langweilige Lernstunden versandeten. Nur jener Heßling-Möchtegern-Offizier mühte sich um Unterstützung der Lehrerin. Die aber war begeistert vor allem von uns Jungen, die wir so offen Interesse zeigten, ließ ihre vorbereiteten Stunden in der Tasche und versuchte, unser Denken zu lenken. Argumente wurden nicht niedergeschlagen und „Erklärungen“ vermittelt, wie wir etwas sehen sollten, sondern sie versuchte, uns die Widersprüchlichkeit von Vorgängen begreiflich zu machen. Nicht einfache Antworten, sondern Bewegung und unter der Oberfläche des offen Sichtbaren gibt es erkennbare Zusammenhänge, um deren Aufdeckung man sich bemühen muss – und das kann sogar Spaß machen.

Dienstag, 12. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (3)

Mit dem Verschwinden des Standardopfers, an dem sich alle ihren Schulfrust abreagiert hatten, begann die Suche nach neuen Opfern. Wir waren eine Klasse mit Jungenüberschuss und nun ging es um die Jagd auf körperlich Schwächere. Damit geriet auch ich wieder ins Visier der Jagd. Allerdings hatte sich die Situation innerhalb der Klasse verändert. Es waren nicht nur gelegentlich ein paar Kinder in meiner Nähe, um meine Blödeleien zu hören, sondern ich hatte einen Kreis von kindlichen Partnerschaften: Einen Freund, der an mir hing wie Watson an Holmes, und noch ein paar Andere, durch die ich mich als Bandenchef fühlen konnte. Ausnahmslos waren es aber alles körperlich nicht überlegene Jungen. Die gegenseitige Hilfe bestand u.a. darin, dass ich denen bei den Hausaufgaben half und ich dafür meine Produkte für den Zeichenunterricht vorbereitet bekam, sodass eine Vier in Zeichnen nun nicht mehr sicher war (Es war manchmal sogar eine Zwei dazwischen). Meine logische Lektion: Die konnten etwas, was ich nicht konnte, und umgekehrt. Wenn dies auch offiziell nicht erwünscht war, eigentlich sogar als Betrug bewertet wurde, so stand doch fest, dass die Nutzung der Stärken der Einzelnen wechselseitig Vorteile brachte. Es machte mir dabei wenig aus, dass ich mehr einbrachte als ich herausholen konnte.
Das Problem der Prügel, des Mobbings der Schwachen war damit aber noch nicht gelöst. Es fanden nämlich immer ausreichend körperlich Überlegene zusammen, um ausreichend Schwächere zu quälen. In die Gruppe der „Schwächeren“ gehörte letztlich sogar ein Junge von hohem Körpergewicht, dem es aber an Schnelligkeit und Beweglichkeit mangelte. Was mich am meisten deprimierte: Die da prügelten waren „leistungsschwache“ Schüler, die sich auf solche Weise ihr „Siegerlebnis“ aus der schule holten, die Betroffenen jedoch versuchten – letztlich meist erfolglos – sich der körperlichen Auseinandersetzung zu entziehen im Bewusstsein der bevorstehenden Niederlage. Eigentlich ging dies so bis Klasse 7. Und dann passierte etwas, was ich im Nachhinein vielleicht überbewertet und fehlinterpretiere. Aber es ist eben passiert: In einer großen Hofpause war es mir gelungen, alle die, die eigentlich auf „meine“ Seite gehörten zu sammeln. Es kam zur Schlacht, bei der die (sonst eigentlich auch immer vorhandene) zahlenmäßige Überlegenheit auch uneingeschränkt zum Tragen kam und wir diese Hofpause als Sieger beendeten. Womit ich nicht gerechnet hatte, trat ein: Von „Kappeleien“ (wie das meine Mutter genannt hätte) abgesehen, die ja wohl überall vorkommen, trat ein dauerhafter Friede ein. Nicht, dass wir nun alle Freunde geworden wären, aber das große Problem, dieses permanente Massenmobbing war zu Ende.
Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass wir insgesamt reifer geworden waren und diese „Schlacht“ nur Anlass und nicht Grund war, aber auf jeden Fall erlebte ich in dieser Schülerolle die Siegpotenz von Underdogs, sobald sie als solidarische Gemeinschaft auftreten.
Ein Anhänger körperlicher Gewalt bin ich damit nicht geworden. Allerdings erlebte ich recht handfest, dass es Situationen gibt, bei denen sie notwendiges Mittel ist, um Gewaltverhältnisse zu beenden. Das hatten wir – und darauf bin ich noch Jahrzehnte später stolz.

Mein ganz individueller Kommunismus (2)

Allerdings war dieses erste Dorfschuljahr auf der anderen Seite zutiefst demütigend: Gestartet mit der Aussicht, wohl besser die ersten Schuljahre zu überspringen und gleich mit Klasse 4 zu beginnen, erlebte ich viele Hürden der Unfähigkeit. In Sport war ich nicht gut, in Fächern, die ein Minimaß an handwerklichem Geschick voraussetzten war ich etwa so sehr Untermaß wie im Rechnen noch Übermaß. Dies wurde durch einen pädagogischen Tiefschlag potenziert: Genetisch war (bin) ich Linkshänder, die ersten Wochen litt ich extrem darunter, ständig darauf hingewiesen zu werden, doch bitte die „richtige“ Hand zu benutzen. Irgendwann hatte ich gelernt, der Lehrerin an den Augen abzulesen, dass ich meinen Stift gerade in der falschen Hand hielt. Allmählich schrieb ich mit rechts. Lange konnte ich allerdings rechts und links nicht unterscheiden und ich habe es nie geschafft, wenigstens 50 Prozent der Schreibgeschwindigkeit meiner Mitschüler zu erreichen und meine „Handschrift“ blieb eine Zumutung für alle die die etwas von mir Geschriebenes lesen mussten. Die Krone der Demütigung erlebte ich am Ende des ersten Schulhalbjahres. Die Lehrerin ließ uns in der Reihenfolge unseres Gesamtzensurendurchschnitts antreten. Ich Wunderkind war Siebenter.
Nicht unwichtig mochte für meine queere Persönlichkeit noch gewesen sein, dass ich nach der abgebrochenen Kindergartenzeit allein zu Hause auf die Rückkehr meiner Mutter von ihrem Halbtagsjob warten musste. Grübelnd, beobachtend und … lesend. Ich entwickelte mich zu einem Außenseiter, Beobachter und Gerechtigkeitsfanatiker, wobei gerecht war, was ich richtig fand.
Keine Ahnung, wie ich geworden wäre, wäre meine Familie nicht im Frühjahr vor Abschluss der ersten Klasse in die Stadt gezogen. Nun konnte ich vom Fenster zum Hof auf den Schulhof, altehrwürdige Kastanienbäume und das Schulgebäude von 1892 sehen – ein Backsteinbau, ziegelrot und massig wie eine Festung oder Kaserne. Das wichtigste Gefühl meinen potentiellen künftigen Mitschülern gegenüber war Angst. Um keinen Preis wollte ich so isoliert wie zuvor bleiben.
Die Rolle des Chefs war vergeben, die des Klassenkaspers war frei, und wenigstens in den folgenden drei Jahren füllte ich sie fantasievoll aus. Den Unterricht zu stören fiel mir nicht schwer und die dümmsten Kinderwitze verwandelte ich in eklig lange Geschichten.
Die Rolle hatte mehrere „Vorteile“. Ein Stück Aufmerksamkeit behielt ich und beim Haupt-Mitschülermobbing konnte ich zusehen. Das Hauptopfer war diesmal ein Mädchen, das durch ihren Geruch und ihre staksigen Bewegungen am meisten auffiel und das Hinundherschubsen dadurch vergnüglicher machte, dass sie so herrlich quäkte, Angst zeigte und „Was hab ich euch getan?“ oder „Lasst mich doch in Ruhe!“ jaulte. Dem Zugriff der Lehrer entzog sich der Terror dadurch, dass „Erdnuss“ erst nach Schulschluss und vor dem Schulgebäude gequält wurde. Ihr Pech war, dass der Hofausgang neben der Haupttür lag, sodass sie nicht ungesehen die Schule verlassen konnte – und immer waren welche vor ihr da, um die sich dann die anderen Wartenden sammelten.
Es hätte natürlich niemand zugegeben und irgendwie war es erst ein Triumph, als das Mädchen aus der Schule genommen wurde und in einer „Hilfsschule“ noch bis zu Klasse 6 kam, aber im Unterbewusstsein einiger wuchs doch das Gefühl, dass wir das Leben eines Menschen zerstört hatten, der uns wirklich nichts getan hatte.

Montag, 11. April 2011

Mein ganz individueller Kommunismus (1)

Über „Kommunismus“ ist schon so viel geschrieben und gesagt worden, was sich hinter vorgeblicher oder eingebildeter Wissenschaftlichkeit verschanzte, dass ich mich da auf keinen Fall einreihen möchte. Sollten sich irgendwo „Wissenschaften“ einschleichen, so möge man mir dies verzeihen und in künftige Debatten einbeziehen … als abschreckende Randnotiz.Ich bin nur ein „Künstler“ - eine Bezeichnung, die nicht geschützt ist, sodass sich jeder Mensch damit schmücken kann, der das wünscht.
Eben weil ich so bedingungslos Ich-bezogen schreiben möchte, beginne ich einfach mit dem Anfang … meinem Anfang. Also über meine Geburt kann ich nichts sagen. Da war ich zwar nicht nur dabei, sondern die Hauptperson, aber nicht so richtig voll da. Bedeutsamer war wohl meine frühe Kindheit. Eigentlich kann ich mich auch daran nicht erinnern, aber die Erzählungen darüber waren zahlreicher und die Folgen habe ich handfester in Erinnerung.
Ich war nicht nur ein unvorhergesehener Nachzügler, sondern wahrscheinlich von Anfang an ein sehr antiautoritäres schwieriges Kind. Nicht hübsch und brav, sondern aufdringlich wie jene berühmten grünen Fliegen. Gründe für den Einsatz diverser Gegenstände zur körperlichen Züchtigung durch meine Eltern gab es viele. Ob mir dies geschadet hat, kann ich nicht beurteilen. Geholfen, aus mir einen „anständigen Jungen“ zu machen, hat es jedenfalls nicht. Zu den frühen Besonderheiten jenes Kindes, aus dem ich mich zu dem entwickeln sollte, was ich nun bin, gehörte eine ungewöhnliche Verbissenheit und gelegentliche Ausgüsse ungewöhnlicher Intelligenz. Auf jeden Fall war ich häufig Gesprächsstoff der zusammen hockenden ältlichen Damen jener Siedlung, in der ich aufwuchs. Wahrscheinlich sei ich ein Wunderkind und würde eine Sensation für die Welt. Welches Menschlein kommt schon im Alter von fünf Jahren auf die Idee, wie ein Chronometer um den Dorfanger zu rollern und dabei laut bis zu einer Million zu zählen – nach 1000 zählte ich dann nur die ganzen Tausender. Ich wurde also gelegentlich herumgereicht, um Zeugnis meiner unbegreiflichen Rechenkunst vorzuführen. So zweifelhaft die Wunderkind-Diagnose der Dorf-Dämlichkeiten auch war, in mir ließ sie die Überzeugung wuchern, dass ich wohl etwas erlesen Besseres war als so eine Dorfgöre. Wenn man also bei einem Fünfjährigen bereits von „Überheblichkeit“ sprechen kann, dann war ich das Muster frühkindlichen überheblich Seins. Mein Fehler nur: Ich zeigte dies sehr offen den anderen Kindern gegenüber, mit denen ich mich fleißig stritt. Die Folge war Isolation. Freunde hatte ich keine, aus dem Dorfkindergarten musste ich herausgenommen werden, weil ich regelmäßig und intensiv verprügelt wurde von der Masse der anderen Kinder. Im ersten Schuljahr wurde ich zur Qual meiner Lehrerin, da ich sehr zügellos über die Unfähigkeit der Mitschüler herzog, solche Babyaufgaben wie zehn minus drei auszurechnen, wo doch klar war, dass 910 minus zwölf 898 war.

Sonntag, 3. April 2011

Wahlmüll (3)

Was so gern übersehen wird, ist das Beharrungsbedürfnis normaler Menschen. Das Gehirn des Durchschnittsmenschen widersteht aus Selbsterhaltungskraft dem Druck, ständig neu zu werten. Die Masse an Entscheidungen, die uns das Leben abverlangt (große UND kleine), ist umso leichter zu bewältigen, umso mehr Entscheidungsgrundlagen als gegeben gesehen werden können. Man weiß eben, dass hinter einer Tür mit dem Piktogramm eine stilisierten Frau sich eine Damentoilette befindet und handelt entsprechend. Auch wenn die Zahl der Jeansträgerinnen die der Rockträgerinnen um ein Vielfaches übersteigt, stört sich niemand daran, dass die stilisierte Frau durch einen Rock definiert wird.
Der Verstand spielt nur eine Rolle im Handlungsprozess – und nicht einmal bei „Vernunftfragen“ DIE Hauptrolle.
Man verzeihe mir mein Entsetzen in Anbetracht der 141 Stimmen für die DKP im Bundesland Baden-Würtenberg. Man verzeihe mir die Vermutung, es handelt sich dabei ausschließlich um Angehörige der Gruppe 1 + 3, also um „konservative Überzeugungstäter“, die schon vor 50 Jahren wussten, was die Welt zusammenhält (oder sorgt, dass sie zusammenfällt) und ebenso lange eine schrumpfende Zahl ihrer Kommunikationspartner von ihrer eigenen Weisheit zu überzeugen versucht.
Ja, wozu solche Überlegungen? Müssen wir nicht nach einem Neuanfang fragen? Wer ist dabei der entscheidende Partner? In gewisser Hinsicht machen wir es uns dabei leicht: Brutzeln im eigenen Saft und gelegentlich wie bei ausgewachsener Bulimie Fressattacken, wo wir gleich alles bewältigen wollen. Aber wie wäre es zur Abwechslung mit einer Strategie des Neuaufbaus? Dabei geht es um zwei Gruppen: Die Protestwähler und die Kreativen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der eine ist der, dass solche Menschen besonders offen sind für ALLES, was neu und anders erscheint. Sie sind also nicht von vornherein gegen rechtes Gedankengut immunisiert. Andererseits fänden sich unter jungen Kreativen viele interessante Menschen, die ansatzweise den Marxismus aus eigenen Flicken neu erfinden würden – natürlich sträubten sie sich mit Händen und Füßen dagegen, in eine solche Ecke gestellt zu werden: Ihnen fehlt überwiegend fundiertes Grundwissen über dialektischen und historischen Materialismus als System und als Methode. Dafür haben sie das Scheitern des realen Anlaufs der Sozialismus-Bewegung in Osteuropa im Unterbewusstsein. Andererseits durchbrechen sie die Logik des Kapitalismus punktuell sogar weit. „Kommunisten“ und „Sozialisten“ erscheinen ihnen „konservativ“.

Samstag, 2. April 2011

Wahlmüll (2)

Gruppe 4 und 5 sind die kreativen und die Protestwähler. Sie unterscheiden sich eigentlich vorrangig im Grad ihres politischen Verständnisses. Beide Gruppen haben emotional erfasst, dass das herrschende Gesamtsystem ihnen eigentlich feindlich gegenüber steht bzw. dem Wesen nach Menschen verachtend ist. Eine vage Ahnung sagt ihnen, das muss etwas Grundsätzliches sein. Wo dieses „Grundsätzliche“ liegt, ist ihnen entweder ganz verschlossen oder wird auf einzelne Details beschränkt. Ein typischer Protestwählerbegriff ist der der „Politiker“. Kreative und Protestwähler haben wirklich viel gemeinsam. Allerdings ist der Antrieb des Protestwählers der „reine“ Protest, also das reine „Dagegen-Sein“. Insofern ist er für ideologische Kampagnen der Sarrazin-Sorte, die sich selbst als Tabu-Bruch in Szene setzen, genauso offen wie ihm ganz rechts und ganz links schnuppe ist.
Die Gruppe 6 ist in gewisser Weise ein „Ableger“ der Gruppe 5: Die demonstrativen Nichtwähler. Aus der Überzeugung heraus, es ändert sich sowieso nichts, versagen sie sich den Versuch – und aus der Angst heraus, wieder enttäuscht zu werden.
Gruppe 7 nennen ich provisorisch die „stupiden Nichtwähler“. Man könnte sie wiederum als Ableger der Gruppe 6 auffassen. Zu ihnen gehören aber auch diejenigen, die nie zu einer Wahl gegangen waren. Zwänge man sie in eine Wahlkabine, kreuzten sie schon aus Angst wegen der Länge des Zettels den obersten Kreis an.
Klammern wir erst einmal kleinere Gruppen aus. Was bringen solche Überlegungen über „Gruppierungen“? Wie hieße es bei den Klassikern des Marxismus? Man muss unterscheiden zwischen der Klasse an sich und der Klasse für sich. Eine Klasse ist eine Gruppe von Menschen, die sich durch objektive Interessengrundlagen unterscheidet. Wahlakte spiegeln aber nur wider, als wozu sich Menschen zugehörig fühlen. Dabei stellt sich die Frage, wie stark Menschenmassen nicht nur manipulierbar sind sondern auch einer Manipulations-“Umpolung“ unterworfen bleiben.