Dienstag, 20. Dezember 2011

Scheitern und meine spezielle Wehrdienstverweigerung in der DDR

Es folgte eine beruflich extrem wilde Zeit. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre ich dabei in einer heutigen, also „kapitalistischen“ Gesellschaft versumpft. Genauer: Ich hätte so viele Sprünge einfach nicht geschafft. Zumindest hätte ich meinen Lebenslauf da wohl entweder fälschen müssen oder zu akzeptieren gehabt, dass ich, als unzuverlässig abgestempelt, zu den meisten Vorstellungsgesprächen überhaupt nicht eingeladen worden wäre. Innerhalb von drei Jahren wechselte ich zwischen drei Berufen in Handel, Kultur und Industrie, wurde ich von der „Nationalen Volksarmee“ nach einem halben Jahr als unverdaulich wieder ausgespuckt und … fand dank der erwünschten Praxiserfahrungen einen Studienplatz als künftiger Lehrer. Ich blicke auf viele Details heute mit Verwunderung zurück. Eigentlich hätte es das alles nicht geben dürfen. Es gab mich aber ...

Es wäre mir sicher möglich gewesen, nach der 8. Klasse aufs Gymnasium zu wechseln. Diese Einrichtung hatte aber bei uns den Ruf, nur etwas für strebsame Mädchen zu sein. Außerdem hatte ich keinerlei Berufsziel. Nur auf die Frage, was ich NICHT wollte, hätte ich eine Antwort gehabt: Mein Geld mit körperlicher, besonders handwerklicher Arbeit zu verdienen. Aber positiv etwas wollen?
Mein Vater hatte sich dafür eingesetzt, dass ich einen der drei Ausbildungsplätze zum „Wirtschaftskaufmann mit Abitur“ in seinem Betrieb bekam. Mutter und Schwester waren Verkäuferinnen, also im Handel, Vater in der Großhandelsgesellschaft „Waren täglicher Bedarf“. Die Ausbildung interessierte mich … nicht. Ich konnte ja aber nicht nichts machen. Wenigstens war ich „untergebracht“. Ich durchlief in der Ausbildung die verschiedensten Abteilungen und Bereiche des Betriebes, der für die Versorgung Schwerins mit Waren des täglichen Bedarfs zuständig war. Ich wurde als kleiner Sachbearbeiter in der Süßwarenabteilung übernommen. Kein Traumjob, aber zumindest kam ich mit den Kollegen zurecht und die mit mir.
Doch das Verderben lauerte schon: die Einberufung zum Grundwehrdienst bei der „Nationalen Volksarmee“. Um die Rolle des „Ehrendienstes“ bei den „bewaffneten Organen“ für Jungen rankten sich viele Legenden. Die wichtigste: Nur wer sich freiwillig wenigstens für drei Jahre verpflichtete, bekäme einen Studienplatz. Ich hatte zwar noch immer keine Vorstellung, WAS ich eventuell studieren könnte, aber dass ich das irgendwann tun würde, wollte ich mir nicht verbauen. Aber dafür zur Armee?! Eher nicht! Also begann ich die Pflicht-Dienstzeit mit der Absicht nicht aufzufallen. Stattdessen leistete ich mir erst einen kleinen Unfall und sorgte dann mit regelmäßigen Fingern im Rachen für Erbrechen. Schließlich wurde ich nach einem halben Jahr ins zivile Leben entlassen. Einziges Problem: Ich war nun ein Jahr zu früh in Freiheit. Der Betrieb musste mich zwar wieder aufnehmen (so war das halt in der DDR), aber der Platz in meiner Abteilung war besetzt. Der einzige freie Platz im Betrieb war einer in der Kosmetik-Reklamationsabteilung. Klar, dass ich so schnell wie möglich irgendwo anders hin wollte. Ich ahnte noch nicht, welche psychischen Schäden die Armeezeit hinterlassen hatte, wie lange die Schreibblockade anhalten würde, also nahm ich noch einen Anlauf in Richtung Schreiben … Dass ich als „kulturpolitisch-künstlerischer Mitarbeiter für künstlerisches Wort beim Kreiskabinett für Kulturarbeit“ alles besonders gut machen wollte, sieht man wahrscheinlich ein. Aber der Ausflug in die Welt der Kulturorganisation wurde zum Fiasko. Gleich der erste Auftritt bei einer höheren Charge im Kreis, konkret beim Direktor des einzigen Gymnasiums, misslang und führte zu einer handfesten Beschwerde.
Meine Vorgesetzte zog daraus den Schluss, dass ich wohl doch etwas zu grün für die Aufgabe sei und ich mir lieber Praxis in einem Produktionsbetrieb holen solle. Heute wäre dies ein Rauswurf in der Probezeit gewesen, damals gönnte man mir etwa ein halbes Jahr, mir etwas Geeignetes zu suchen. Diese Zeit verbrachte ich überwiegend mit Basisarbeit bei Schreibenden und Laienkabarettisten in Betrieben und mit der Erarbeitung von Muster-Programmen zu allen möglichen Fest- und Gedenktagen. Ein besonderes Vergnügen bereitete es mir, zum „Tag der Nationalen Volksarmee“ ein expressiv antimilitaristisches Programm zu verbreiten. Es war eine besondere Genugtuung, dass nun Danksagungen aus mehreren Betrieben im Kreiskabinett ankamen. Wahrscheinlich hatte man nichts als trockene Lobhudeleien erwartet.

Hebamme Geschichte und ihre Ungeschicklichkeit (2)

Dialektik in der Geschichte


Dazu muss ich einen Ausflug in das verschachtelte Weltanschauungssystem des „Marxismus/Leninismus“ wagen. Zu ihm gehört Philosophie, politische Ökonomie und das, was manche „wissenschaftlichen Kommunismus“ nennen. Eine Stufe sachlicher der „dialektische und historische Materialismus“. Den kann man am kürzesten so beschreiben: Alles, was existiert, ist materiell und insoweit erkennbar (nur evtl. noch nicht erkannt) und dementsprechend veränderbar. Unser Bewusstsein spiegelt das Materielle wider, verändert es aber auch dabei.
Dialektik ist eine Weltsicht in Zusammenhängen. Alles ist Gewordenes (und Vergehendes) und steht in Wechselwirkung mit der „restlichen“ materiellen Welt. Das Materielle in der menschlichen Gesellschaft sind seine wirtschaftlichen Beziehungen, die aus dem Entwicklungsstand der „Produktivkräfte“ erwachsen: So wie die technischen Möglichkeiten einer Produktion entwickelt sind, so finden sich die Menschen in „Verkehrsverhältnissen“ miteinander wieder. Diese bilden einen Rahmen, der langfristig die menschliche Entwicklung bestimmt und der gesprengt werden muss, wenn er dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte nicht mehr entspricht.
Das klingt hoch verwissenschaftlicht, ist es eigentlich auch und hat demzufolge selbst für gebildete „Marxisten“ gemeine Fallstricke. Die Gesetze der menschlichen Gesellschaft wirken zwar in gewisser Weise wie Naturgesetze. Allerdings kann - so wie bei den Fallgesetzen Newtons die Erde (und der Gravitations-Gegenkörper) vorhanden sein muss - ein „gesellschaftliches Gesetz“ nur beim Handeln von Menschen in der Gesellschaft existieren und funktionieren. Das aber ist wiederum nicht ohne ein bestimmtes Bewusstsein zu haben. Und verdammt nochmal: Das sind Beziehungen, die nicht der Schulmathematik entsprechen, weil das Handeln von Gruppen die Gesamtheit des Handelns der dazu gehörenden Menschen ist und jedes einzelne Bewusstsein durch mehr Faktoren beeinflusst wird, als für den konkreten Einzel-Sachverhalt relevant wären.
Sprich: Der Marxismus erfasst richtig den „Klassenkampf“ als Triebkraft der menschlichen Entwicklung. Aber obwohl es Interessen gibt, die große Menschengruppen aufgrund ihrer Stellung in der materiellen Produktion objektiv gemeinsam haben, die also „Klassen“ begründen, heißt dies noch lange nicht, dass sie sich dessen bewusst sind und entsprechend handeln wollen – und dann handeln sie auch nicht. So wie die Existenz von Gravitation dort belanglos ist, wo es nur einen Körper gibt. Was aber hat das mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu tun?


Der Länge wegen teile ich den Entwurf für das Geschichtskapitel IM KOMoDo-Projekt auf. Der vollständige Text findet sich  h i e r.

Montag, 19. Dezember 2011

Hebamme Geschichte und ihre Ungeschicklichkeit (1)

Das Versagen vor 100 Jahren


Das zwanzigste war das Jahrhundert fürchterlichster Menschheitskatastrophen. Eine davon „kandidiert“ für mich noch darum, die schlimmste überhaupt zu zu sein. Neben ihren unmittelbaren direkten und indirekten Auswirkungen blieb bisher offen, ob sie den Untergang der Menschheit eingeleitet hat. Das können aber nur Aliens entscheiden, die diese Erde irgendwann besuchen werden. Nach meinem Verständnis ist die größte Katastrophe der jüngeren Menschheitsgeschichte die Niederlage der Novemberrevolution in Deutschland. Hoffentlich ist das nur nationale Verblendung.
Um das Problem noch weiter zuzuspitzen, nenne ich die „andere Seite“ derselben Medaille. Das ist der „Sieg“ der russischen Oktoberrevolution, genauer: die Art, in der er nur möglich geworden war und in der bereits der Keim für sein Ende enthalten war. In einem ganz anderen Sinn als der bürgerlichen Geschichtsauffassung war die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ nämlich auch eine Katastrophe … eben der Ereignisse in Deutschland wegen.
Reisen wir gedanklich gut 100 Jahre rückwärts. Selbst bürgerliche Historiker leisten sich mitunter den Luxus, zuzugeben, dass damals „Kapitalismus“ herrschte, ja „Imperialismus“. Nun brauchen wir uns nicht darüber auszulassen, dass das, was heute Erster Weltkrieg genannt wird, kein unerwarteter Schicksalsschlag war, in den die unschuldigen Nationen Europas und der Welt „hineingerissen“ wurden, weil ein „Irrer“ einen Thronfolger ermordet hatte. Wir wissen um das Wesen des Imperialismus, seine Aggressivität, seine gesetzmäßig ungleichmäßige Entwicklung und die dabei Deutschland zugefallene Rolle als Zu-spät-Kommer, eine vollzogene Aufteilung der Welt ändern zu wollen. Aber eigentlich brachte jeder imperialistische Staat konkrete wirtschaftliche Hoffnungen in seine Kriegspolitik ein. Der Krieg war eine zwangsweise Folge der Vollendung des „Imperialismus“: Nach Jahrzehnten des Wettlaufs, relativ wehrlose Völkerschaften unter die eigene Herrschaft zu bekommen (Kolonialreiche), war nun alles so weit aufgeteilt, dass nur noch eine Umverteilung möglich war. Dabei hatte Deutschland in den letzten Jahren einen besonders stürmischen Aufschwung seiner inneren Wirtschaft erlebt, ohne dass dies in Weltmacht adäquat umsetzbar gewesen wäre – überall waren schon englische oder französische Krallen auf der angestrebten Beute. Dass der Weltkrieg begann, war also keine „Katastrophe“, sondern notwendige Folge der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Katastrophe lag erst in seinem Verlauf und einem Ende, in dem die Ausgangspositionen für den nächsten Weltkrieg bereits „eingebaut“ waren.
Dieses Kriegsende, wie es ausgesehen hat und was hätte kommen sollen oder müssen, ist das Problem.


 Der Länge wegen teile ich den Entwurf für das Geschichtskapitel IM KOMoDo-Projekt auf. Der vollständige Text findet sich  h i e r.

Wie ich trotz und wegen der DDR zu meinem ganz individuellen Kommunismus fand (7)

Die dummen Mitschüler


Ich war ehrgeizig, wäre lieber immer besser gewesen. Aber irgendwie war mir klar, dass ich mich nie wesentlich zeugnisrelevant steigern konnte. Das wäre Zufall gewesen. Mir blieb nur eine andere Freude: eigentlich „leistungsschwache“ Mitschüler zu guten Leistungen zu coachen. Also sie nicht abschreiben zu lassen, sondern sie zu Ergebnissen zu führen, die „man“ ihnen nicht zutraute. Das Gefühl, heimlicher „Vater“ einer guten Note Anderer zu sein, war nicht zu überbieten. Da konnte mir niemand etwas vorwerfen – Egoismus, Strebertum, was auch immer Negatives (das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein, verfolgte mich ständig ...)
In der Neunten trimmte ich einen Mitschüler, der ein total gestörtes Verhältnis zur Mathematik hatte. Nun fiel ich in dem Fach immer noch aus dem Rahmen: Extrem langsam beim Schreiben konnte ich es mir nicht leisten, die einzelnen Teilschritte zu lernen und zu verwenden – ich verwendete abgekürzte Wege, die bei „normalen“ Schülern nicht akzeptiert worden wären. Mir waren umfangreiche Lernschritte suspekt. Was sollte ich nun dem Mitschüler erklären? Den vorgegebenen Weg Schritt für Schritt? Ich entschied mich für die Logik, die ich für mich entwickelt hatte. Immer wieder testete ich, was davon „haften geblieben“ war. Dann gemeinsames Rechnen. Bei jedem kleinen Gedanken fragte nun er unsicher nervend „Soooo?“ Bis ich dann irgendwann erklärte, er bekäme jetzt eine Aufgabe, die er bis zum Schluss allein lösen müsse. Nachher würden wir dann prüfen, warum eventuell was falsch sei. Mehrmals versuchte er, mich zu einem Blick auf sein Blatt zu animieren. Endlich bot er mir eine Lösung an. Beim ersten Blick schrak ich zurück. 14 Schritte waren normal, er hatte sechs gebraucht, sodass ich erst rief, so ginge es nicht … Bis ich feststellte, dass er das, was ich ihm an Zusammenhängen erklärt hatte, in einen neuer Rechenweg umgesetzt hatte. Den hatte er selbst entwickelt. Plötzlich zerfiel alle meine „genialische“ Überlegenheit. Nur Geduld war geblieben, sich einem Problem eben anders als „normal“ zu nähern. Ein „schwacher“ Schüler war also eigentlich keiner, sondern nur einer, der andere Anregungen zum Denken brauchte, als er sie üblicherweise erhielt. In diesem einen Fall hatte ich solch eine Anregung gefunden. Welch ungeheures Potential musste in den Menschen stecken, wenn man sich ihrer geduldig annahm! Erstmals erschien mir „Leistung“ als Produkt von Zufällen und nicht als Ergebnis „guter“ oder „schlechter“ Schüler.

Und am Ende der 10. Klasse gab es noch eine „Offenbarung“. Meine Klasse machte eine einwöchige Abschlussfahrt. Zufälle brachten mich dabei mit einem Schüler zusammen, von dem ich kaum mehr wusste, als dass er mehrmals nur sehr knapp versetzt worden war. Wir unterhielten uns viel. Anfangs begeisterten wir uns an „Raumschiff Enterprise“ im Fernsehen. Das wäre ja so ungewöhnlich nicht gewesen. Aber beeindruckend war dann das darüber hinausgehende Wissen und Denken des Jungen, sein … philosophischer Scharfblick. Klar haben wir auch viel „gesponnen“. Aber wichtiger war, dass ich erstmals bei jemandem, den ich weit unter meinem geistigen Niveau eingeordnet hatte – die ganze Schulzeit lang – ein geschlossenes kluges Denksystem erlebte. Eigentlich machte er sich um die Zukunft der Welt mehr Gedanken als ich und er vermochte seine Überlegungen verblüffend klar zu formulieren. Ich bekam das Gefühl, in den letzten Jahren einen Freund übersehen zu haben, weil ich mich innerlich zu sehr über ihn erhoben hatte, um ihn überhaupt zu bemerken. Ich ahnte nun, dass es extrem unterschiedliche Möglichkeiten gibt, über die ein Mensch für andere, zumindest aber für einen anderen „wertvoll“ sein kann. Schon damals begann es mir zu widerstreben, solchen „Wert“zu wichten. Warum soll jemand wegen seiner Besonderheit besser oder schlechter als ein anderer mit dessen anderer? Vor allem führten mich unsere utopischen Zeitreisen zu einer bitteren Erkenntnis: Es war ein verdammt gewöhnlicher Zufall, dass ich in meine Zeit hineingeboren war und hier mit guten Zensuren brillierte. Von der sozialen Herkunft in keiner Weise privilegiert graute es mir vor der Vorstellung, in einer vergangenen Zeit zur Welt gekommen zu sein. Meine Art zu denken wäre da abfällig weggewischt worden. Nur die Muskelkraft hätte gezählt. An der aber haperte es. Oder was wäre gewesen, wäre ich in einer vergangenen Zeit zur Schule gegangen? Beim Auswendiglernen war ich schwach. Ich wäre also ein „schlechter“ Schüler gewesen. Wer konnte mir sagen, welche Qualitäten in 100 Jahren erwünscht sein würden – die ich vielleicht hätte, vielleicht aber auch nicht. Mein gutes Zeugnis war also nicht objektiv, sondern dem Zufall geschuldet, dass ich Fähigkeiten zu meinen Besonderheiten zählten, die gerade erwünscht und messbar gewesen waren.


Dies ist ein biografischer Text, den ich geschrieben hatte, um ihn eventuell in einem Buch zu meinen Vorstellungen zu veröffentlichen. An dieser Stelle präsentiere ich ihn unabhängig davon, ob er je Eingang in ein Buch finden wird. Der Länge wegen teile ich ihn auf. Der vollständige Text findet sich hier.

Sonntag, 18. Dezember 2011

Wie ich trotz und wegen der DDR zu meinem ganz individuellen Kommunismus fand (6)

Kindheit - erste Schreibversuche

Dann setzte meine erste „Schreibphase“ ein. Gedichte ... sehr weise, das Wesen der Welt erklärende und so hölzern holpernde, dass wirklich nur ich selbst von mir überzeugt sein konnte. Aber es gab die verschiedensten Fördermöglichkeiten. Ein Zirkel schreibender Arbeiter der deutschen Post, in dem kaum ein Mitglied etwas mit der Post zu tun hatte, und viele andere. So konnte ich unterschiedliche Denk- und Betrachtungsweisen beobachten. Das ging bis zum zentralen Poetenseminar der FDJ in den Räumen des Schweriner Schlosses und draußen in der Neubausiedlung. Begegnungen mit kritischen „richtigen“ Schriftstellern, engagierten Menschen, die alle dafür eintraten, schärfer hinzusehen, „mit dem Herzen“ zu sehen, sich einzubringen. Begegnungen wurden organisiert, die uns die Widersprüche von Anspruch und Wirklichkeit von „unserem“ Sozialismus vor Augen führte. Fast noch Kinder erlebten wir jungen Poeten die zerplatzende Illusion zukunftsfähigen Bauens. Aus der Not geboren, schnell das Problem zu lösen, jedem, der Wohnraum brauchte, welchen zu geben, wurden Siedlungen auf die Wiese gesetzt, die nach etwa 25 Jahren planmäßig durch etwas Neues, Richtiges hätten ersetzt werden sollen – was dann natürlich nie geschah. So beschrieb es einer der Projektanten des Neubaugebiets Großer Dreesch. Viel später erfuhr ich, dass einige der so eifrig engagierten Autoren für das Ministerium für Staatssicherheit Berichte geschrieben haben. Sie haben viel zu schreiben gehabt über uns. Nein. Ich finde es nicht gut. Menschlich traurig. Aber bei denen, von denen ich es hörte und die ich selbst erlebt hatte, wusste ich: Aus niederen Beweggründen, zum Beispiel als „Job“ für Geld haben sie es nicht getan. Sie waren wirklich überzeugt, mit ihrem Tun dem „Sozialismus“ zu nutzen. Dass sie ihm letztlich eher schadeten, hätte ich damals noch nicht verstanden.



Dies ist ein biografischer Text, den ich geschrieben hatte, um ihn eventuell in einem Buch zu meinen Vorstellungen zu veröffentlichen. An dieser Stelle präsentiere ich ihn unabhängig davon, ob er je Eingang in ein Buch finden wird. Der Länge wegen teile ich ihn auf. Der vollständige Text findet sich hier.

Samstag, 17. Dezember 2011

Wie ich trotz und wegen der DDR zu meinem ganz individuellen Kommunismus fand (6)

Kindheit - Kultur, Theater


Wie gesagt, ein Großteil der Möglichkeiten, die uns Kindern auf die Nase gedrückt wurden, passten trotzdem nicht zu meiner sich entwickelnden Persönlichkeit:
Fahnenappelle waren mir kleinem Anarchisten schon des Einordnens wegen suspekt. Allerdings hielt sich die Zahl der militaristischen und Appell-Veranstaltungen, an denen ich teilnehmen musste, in engen Grenzen. Als wir im Unterricht Friedrich Wolfs „Kiki“ behandelten, wurde diese Geschichte sofort eine meiner liebsten. Die „Haltung“ des Hundes, die „Würde“ eines Zwangsappells mit Jaulen lächerlich zu machen, entsprach vollständig meinem Verständnis. So starb ich sozusagen im Kreis der trauernden Gefangenen und fühlte mich zugleich als einer der ihren. Dabei begriff ich erst viel später, dass die „Bösen“ in der Erzählung nicht einmal „echte“ Faschisten gewesen waren, sondern sich ihnen Andienende.

Gemeinschaftliches Basteln und Malen und Sport waren mir der blanke Horror. Weil ich es nicht konnte, wollte ich es nicht. Je besser ich diesen Zusammenhang bei mir verstand, umso besser verstand ich auch meine Mitschüler, die Grauen vor den Mathestunden empfanden, weil sie mit lauter Unlösbarem zusammenstießen.
Dafür war das Pionierhaus, genauer die Pionierbibliothek darin, für mich das Paradies. Das Haus wegen seiner vielen Möglichkeiten, die Bibliothek … Ich glaube, schon in der 5. Klasse hatte sie mir kaum noch Neues zu bieten und ich versuchte eine „normale“. Mein Schnitt waren vier bis fünf „richtige“ Bücher pro Woche. Ich las also kaum Kinderbücher, sondern reiste in die Welten von Maupassant, Balsac, Dickens und vielen anderen. Ich hatte trotzdem keine Ahnung, was eine Nutte wirklich war – ich empfinde heute weder mein Unwissen als Mangel noch die Tatsache, dass es in meinem Schwerin real keine gab.
Durch jene sehr wilden, individualistischen Reisen durch die Weltliteratur veränderte sich unbemerkt und unterschwellig mein „Blick“. Ich war ein Junge, der zu viel geschmökert hatte. Zwar in keinem Karl May, aber bei Lieselotte Welskopf-Henrich, Jules Verne und überwiegend in Dingen, die nicht für einen Elf-/Zwölfjährigen gedacht waren. Und die DDR bot in der Folgezeit weitere Chancen zur Befriedigung meines wirren Kunsthungers: Jugendstunden und Theaterkreise. Auf die Mischung kam es an. So wirr, wie ich ahnungslos vor der „Weltkultur“ stand, so bunt gemixt wurden uns monatlich verschiedenartige Erlebnisse vermittelt. Opern, Schauspiele, Ballett, Heiteres … Das hatte einen eigenen Reiz. Nicht immer hoch kulturellen. Da bemühte sich unsere Musiklehrerin vergeblich um eine vielleicht angemessene Einführung. Aber wir gingen gerne auch in Kunstveranstaltungen, die wir kaum verstand, denn was hätte es für einen besseren Vorwand gegeben, abends „die Sau rauslassen“ zu dürfen? Nicht jedem wäre mit vierzehn erlaubt worden, nach 22 Uhr durch die Straßen zu ziehen. Aber nach dem Theater …
Wie viel es bei jedem Einzelnen Positives bewirkt hat – wer vermag das einzuschätzen? Aber jeder hatte die Chance, seine Sinne zu schulen. Und das Staatstheater war gut. Dass dies in irgendeiner Weise ein „soziales“ Problem sein könnte (außer im Sinne unseres Gruppenzusammenhalts), wäre keinem eingefallen, denn jeder konnte sich die Karten leisten. Die Eintrittskarten kosteten ja kaum mehr, als ihr Druck gekostet hatte …


Dies ist ein biografischer Text, den ich geschrieben hatte, um ihn eventuell in einem Buch zu meinen Vorstellungen zu veröffentlichen. An dieser Stelle präsentiere ich ihn unabhängig davon, ob er je Eingang in ein Buch finden wird. Der Länge wegen teile ich ihn auf. Der vollständige Text findet sich hier.

Freitag, 16. Dezember 2011

Wie ich trotz und wegen der DDR zu meinem ganz individuellen Kommunismus fand (5)

Kindheit (5) - Pioniere, Solidarität, "verordneter Antifaschismus"


Aber noch etwas zeitlich zurück – zum einen, weil mir das auf´s Stichwort „solidarisch“ einfiel, zum anderen, weil dabei sozusagen kindlich-naive Keime meiner späteren „kommunistischen Visionen“ gelegt wurden:
Aus dem, was ich bisher erzählt habe, müsste klar geworden sein, dass ich nie ein extrem kommunikativer Typ gewesen bin oder gar ein „Charismatiker“. Es gab aber eben Situationen, wo positive Gefühle vermittelt wurden. Dazu gehörten einige der Veranstaltungen der Kinder- und Jugendorganisationen.
Nein, nicht die kirchlichen. Meine Mutter hatte mich zur „Christenlehre“ in die Kirche geschickt, wo uns Geschichtchen erzählt, und wir, wenn wir brav waren, mit Bildchen (heute würde man wohl „Sticker“ sagen) belohnt wurden. Für die Anregung meiner Fantasie waren diese Nachmittage wahrscheinlich sogar positiv. Aber für mich Acht- oder Neunjährigen war es herabwürdigend, dass der Pfarrer sie uns Kindern als wahre Geschichten anbot. Ich verstand da noch nichts von der „Wahrheit“ in Gleichnissen, empfand es aber als Beleidigung, dass jemand erwartete, ich würde Märchen für Wirklichkeit nehmen. Das war dann Grund für entschiedenen Protest bei meiner Mutter und fast das Ende meiner Kontakte zu kirchlichen „Würdenträgern“. (Später empfand ich hingegen die Gastfreundschaft von Kirchenleuten auf meinen Tramptouren als wohltuend.)
Anders war das bei manchen Pioniernachmittagen. Die nachhaltigsten waren jene Ausflüge, bei denen wir Eicheln und Kastanien für die Tierparktiere (und zum Basteln) sammelten. Keine Ahnung, ob unsere Eicheln den Tieren dort wirklich das Überwintern erleichtert haben. Heute würde ich sagen, das war auch nicht das Wichtigste. Viel wichtiger war etwas Anderes: Wir hatten das Gefühl, etwas Nützliches, ja Wertvolles zu tun, was zugleich richtig Spaß machte. Das heißt, das Sammeln der Eicheln (und das Werfen nach Anderen) hätte auch OHNE einen höheren Sinn Spaß gemacht, es war ein vergnüglicher Zeitvertreib; das Gefühl, sozusagen unserem Patenschwein das Leben zu erhalten, machte uns aber erst richtig stolz auf eine eigene Leistung. Ich hätte da nicht an „Kommunismus“ gedacht, aber hat man nicht auch als Erwachsener Anspruch auf kindliche Freude an der eigenen Nützlichkeit? Wird sie einem nicht erst durch die Erfahrung von „allgemeinem“ Egoismus vergällt? Positiv bleiben Reste solchen Erlebens natürlich besonders dann zurück, wenn man den Erfolg greifbar gemacht bekommt. Wir waren also eifrige Besucher des Tierparks, wo uns der Nutzen unseres Tuns von kompetenten Personen bestätigt wurde. (Mir scheint es selbstverständlich, dass Kinder, denen solche greifbaren Nützlichkeitserlebnisse versagt blieben, tendenziell ein Stück weiter zu Egoisten „erzogen“ werden – ohne eigentlich erzogen zu werden.) Ganz unmittelbar erlebten wir, dass es schwächere Wesen gibt, die durch unsere solidarische Hilfe überlebten. Okay … die richtige Vorbereitung auf eine Welt einzusetzender Ego-Ellenbogen wäre es nicht gewesen … aber darauf sollten wir ja auch nicht vorbereitet werden.
Allerdings ... Solidaritätsaktionen wie die für Angela Davis hatten zwei Seiten: Die agitatorische, dass eine Kommunistin einfach unschuldig sein müsse (was sich im konkreten Fall juristisch belegen ließ), aber auch eine „rein“ menschliche: Stellt euch schützend vor Menschen, die zum Opfer legaler (oder halb legaler) Ungerechtigkeit werden (könnten). Eine gute Sache wird doch nicht allein dadurch „schlecht“, dass sie mehr oder weniger „staatlich verordnet“ wird. Ich finde es heute peinlich, wenn ausgerechnet mit diesem Ausdruck „Linke“ den DDR-Antifaschismus verunglimpfen. Am System des damaligen (nicht) „realen Sozialismus“ gibt es viele Kritikpunkte. Dass sich ein ganzes Volk mit den wenigen aktiven Antifaschisten, die das faschistische Terrorregime überstanden hatten, identifizieren durfte, halte ich für bedankenswert.



Dies ist ein biografischer Text, den ich geschrieben hatte, um ihn eventuell in einem Buch zu meinen Vorstellungen zu veröffentlichen. An dieser Stelle präsentiere ich ihn unabhängig davon, ob er je Eingang in ein Buch finden wird. Der Länge wegen teile ich ihn auf. Der vollständige Text findet sich hier.