Donnerstag, 10. November 2011

Mit unverKLEISTertem Blick (1)

In der "jungen Welt" herrschen empfehlenswerte Gewohnheiten: Neben den ganz aktuell zu verarbeitenden Nachrichten - bei denen die Zeitung wegen gewisser zeitlich-redaktioneller Rückstände noch keine absoluten Höchstnoten erreichen kann - öffnet sie den Blick über den Tag hinaus. Einen besonderen Anteil daran haben die Beiträge auf Seite 10/11. Hier laufen populärwissenschaftliche Philosophie-Dispute, aber auch Themen z. B. aus Geschichte und Kunst werden eingehender betrachtet. Diesmal wurde Kleists 200. Geburtstag sogar mit einem auf zwei Ausgaben verteilten Beitrag gewürdigt und analysiert. Das ist nicht nur für Kenner von Interesse und lesbar, weil der Dichter und seine Werke nicht nur in sein Umfeld gestellt werden, sondern die Kleist-Rezeption in verschiedenen Zeiten natürlich viel Raum zum Weiterdenken schafft.
Allerdings versteckt sich der Autor bei der Kleist- und Romantik-Rezeptionsgeschichte in der DDR zu sehr hinter Peter Hacks. Dekadenz, richtig. Die Kunst nahm den eigenen Untergang vorweg. Auch richtig. Aber warum? Aber hier fehlt nun das Gemeinsame von DDR-Romantik-Rezeption und der im Faschismus.
Die Überbetonung des Gefühls ist das eine. Sie ist, das darf man nicht vergessen, auch eine Überreaktion auf die Überbetonung des Verstandes im "sozialistischen Realismus". Aber das Warum geht noch weiter:
Dem Gesamtproblem liegt eine philosophische Kernfrage zugrunde: Ist unsere Welt in ihrer Totale erkennbar. Die bürgerlich-progressive Linie bejaht dies auf ihre Weise. In der Aufklärung mit dem Vernunft-Diktat, das der aufgeklärte Monarch nur umsetzen brauchte. Letzten Endes in der Klassik mit einem allgemeinen kreativen Menschenbild, bei dem selbst negative Einflüsse zu einem positiven Ergebnis führen ... bis hin zu Fausts Zukunftsvision, das als Vorwegnahme des Kommunismus-Bildes interpretiert werden kann. Höhenflüge voll Optimismus. Kaum ein Achselzucken gegenüber den Bauchlandungen auf dem Weg bis dahin.
Dem gegenüber die schmachtende Romantik, die eben diese Bauchlandungen voraussieht, richtiger -ahnt.
Beide bieten Antworten: Die Klassik "Es wird schon werden", die Romantik "Es war doch schon mal". Die Suche nach der einfachen Antwort.
Eine einfache Antwort wäre der Rückblick auf vergangenes einfacheres Leben, überschaubarere Werte.
Damit verbunden: Die Machtfrage war leicht zu klären. Entweder der eine schlägt den anderen oder der den einen nieder. Man kann sich natürlich auch in ein Gefolge einordnen. Mit dem großen Abstand wächst der Raum für Verklärungen.
Aber die DDR?
Das Gefühl reagiert auf veränderte Bedingungen zuerst. Der historische und dialektische Materialismus galt zwar noch als "Staatsreligion", aber die innere Wirklichkeit schien mit den offiziell erlaubten erlaubten Mustern nicht mehr ausreichend erklärbar. Warum erwies sich dieser "Sozialismus" nicht weiter als dynamischer?
So entstand Raum für vereinfachende Muster. Auf der einen Seite verstärkter Dirigismus (einschließlich Misstrauen den eigenen Bürgern gegenüber) auf der anderen die Aufgabe aktiv angestrebter (vernünftiger) Visionen. Platz für "Kein Ort. Nirgends".
So wie das idealisierte Gefolgschaftstum dem Faschismus, also dem besonders entblößten Kapitalismus diente, waren romantische Gefühls"erkenntnisse" Sympthome schrumpfenden Selbstwerts.

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