Samstag, 5. November 2011

„Die Bücherdiebin“ oder vom Sirenenruf des Künstlers

Die Meinung Meinung meines selbst schreibenden Freundes stand fest: „Die Bücherdiebin“ von Markus Zusak erschien ihm als heißer Kandidat für den Literaturnobelpreis. Ich müsse es unbedingt gelesen haben. Ich gebe zu, anfangs fiel ich in den Strudel. Was den Umgang mit Sprache angeht, setzt das Buch Maßstäbe. Bis auf unbedeutende Ausnahmen ist darin etwas Unglaubliches gelungen. Dort, wo ein „normaler“ Schriftsteller charakterisierende Eigenschaftswörter benutzt hätte, verwendete der Autor Metaphern und mitunter in sich absurd erscheinende Sprachkonstruktionen, die beim Leser das Gefühl, um das es jeweils geht, nicht benennen, sondern erzeugen. Ich war einfach bereit zu weinen, wenn Zusak das wollte.
Erst allmählich schälte es sich heraus: Der Autor hat sein Thema missbraucht. Ob beabsichtigt oder nicht – er verbreitet eine gefährliche Ideologie auf eine gefährlich einschmeichelnde Weise.
Der Plot ist relativ einfach, obwohl die Verzweigtheit einander berührender Handlungsstränge das Ganze zu einem echten Roman macht: Der Tod erzählt die Geschichte eines deutschen Mädchens in den Jahren 1939 bis 1943 einschließlich der Menschen, mit denen sie in Berührung kommt. Die Handlung beginnt auf der Fahrt zu ihren Pflegeeltern, als ein „Handbuch für Totengräber“ für sie zum letzten Andenken an den verstorbenen jüngeren Bruder und die Mutter wird, und endet mit dem Tod der in ihrer Straße in einer Kleinstadt nahe München wohnenden Mitmenschen und Freunde.
Das Leben von Menschen im Faschismus also. Die Wahl des personifizierten Todes als allwissender Erzähler und des Alters der Hauptheldin – neun Jahre zu Beginn, vierzehn am Schluss – schafft eigentlich breitestmöglichen erzählerischen Spielraum. Auf dem Weg vom Kind zur frühreifen „Frau“ könnte das wissbegierige Kind uns an Erkenntnisgewinnen teilhaben lassen und notfalls kann der ewig Allgegenwärtige uns zurückhaltend das vermitteln, was den Horizont des Mädchens übersteigt. Beides bleibt in extremem Einfühlungsgefühl stecken.
Mir graut es davor, jemand, der dieses Buch gelesen hat, könnte nachher sagen, er hätte den Faschismus besser verstanden. Denn künstlerisch gut verpackt bleibt ein Gedanke übrig:
„Wir waren alles Opfer – Adolf Hitler ist es gewesen!“
Dass der von den Pflegeeltern versteckte, Monate lang isoliert lebende jüdische Möchtegernfaustkämpfer alles auf die eine Person des „Führers“ fixiert, ist ein gut nachzuvollziehendes und gestaltetes Bild. Dass dem aber kein wie auch immer geartetes Gegenbild beigestellt wird, lässt glauben, der Autor sieht das auch so oder – noch schlimmer – will, dass die Leser das so sehen.
Die Art der permanenten Bedrohung durch „den Krieg“, besonders natürlich das Zelebrieren der psychischen Leiden des Mädchens, als sie nacheinander ihre Familie und Freunde als Opfer der Bomben erkennen muss, macht das Buch sogar für „Neonazis“ zumutbar: Vom Gefühl her erweckt es das Wort „Bombenholocaust“ zum Leben. Dieser Eindruck wird – wenn auch wahrscheinlich unbeabsichtigt – dadurch noch bestärkt, dass der junge Jude – im Gegensatz zu den lieben Deutschen – (dank !?) Dachau überlebt hat.
Ich kann mich natürlich nicht zurückhalten, etwas dazu anzumerken, dass der leibliche Vater des Mädchens ein Kommunist gewesen sein soll. Im Zusammenhang mit dem Gesamtroman wirkt das so, als hätte der Autor irgendwo gehört, das sei eine wesentliche Opfergruppe unter dem Faschismus gewesen, wichtiger als Zigeuner oder Zeugen Jehova, also muss das Wort vorkommen. Dass das Mädchen dem Sinn des Begriffs nicht nachgegangen sein sollte, erscheint mir unter ihrem Niveau – bis hin zum Infragestellen offizieller Antworten. Der Autor ist feige genug, sie nicht einmal in ihrem erbeuteten Buch der Wortbedeutungen nachschlagen zu lassen. Überhaupt scheint der Autor jede Berührung mit geistigem und sachlichem Widerstand gegen das System zu scheuen. Sofern jemand aufbegehrt, so tut er dies naiv bis dumm und selbstmörderisch. Geradezu erschreckend die Mühe, die sich Zusak gab, um das menschliche Handeln des Pflegevaters, also dass der den jungen Juden verbirgt, hinter der germanischen Treue, ein einmal gegebenes Versprechen einlösen zu müssen, zu verbergen.
Man schlägt das Buch zu. Ein anständiger Mensch hat seine Träne im Knopfloch: „Ach, die Ärmste!“ und dann … Nichts!
Da erwacht dann doch mein Widerspruch. Heulen ist gar nicht so schlecht, Mitfühlen.  Aber darf sich Kunst darauf beschränken? Vor allem Wortkunst, die Zusammenhänge umfassend darstellen könnte? Gut, bei jedem progressiven Kunstwerk bin ich traurig, wenn die „Botschaft“ zu vordergründig daherkommt. Aber dafür gar keine oder die „Botschaft“ zu transportieren, es hat alles keinen Sinn, wir waren / sind alles Opfer?
Wer schreibt, hat eine große Verantwortung. Durch seine Kunst bereichert er seine Leser im Fühlen und Verstehen. Dem wurde das Buch nicht gerecht. Im Gegenteil: Ein Verlag verdient daran, Lesenden Schlafsand zwischen die Gehirnwindungen zu streuen … Also weinen wir noch ein wenig vor uns hin … und suchen dann nach klug Machendem …
In Wikipedia hat das Buch einen eigenen Artikel bekommen. Dabei ist besonders erschreckend, dass der Erfolg des Werkes als „Jugendbuch“ hervorgehoben wird – angeblich neben „Das Tagebuch der Anne Frank“ zu stellen (http://de.wikipedia.org/wiki/Die_B%C3%BCcherdiebin ) Dies ist dann mindestens böser Vorsatz. Für die Zielgruppe ist es ideologische Indoktrination mit dem Ziel, junge Menschen von jeder praktischen Form des Widerstands abzuhalten.

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