Donnerstag, 22. Dezember 2011

Hebamme Geschichte und ihre Ungeschicklichkeit (4)

Ein Was-wäre-wenn-Spiel ...


Also spielen wir einmal das unwissenschaftliche Was-wäre-gewesen-wenn-Spiel und stellen Überlegungen an, was sich beim Sieg einer sozialistischen deutschen Novemberevolution für die Welt wahrscheinlich alles verändert hätte.

Als sicher anzusehen wäre ein anderer Verlauf des Interventions- und Bürgerkrieges gegen das junge Sowjetrussland. Wahrscheinlich wäre dieser Krieg mit weniger weißem Terror und damit weniger rotem Gegenterror zu Ende gegangen.
Sicher hätte auch das, was wir als „Versailler Vertrag“ und seine Umsetzung kennen, anders ausgesehen.
Sicher ist drittens, dass eine richtige Volksmacht zum Aufbau des Sozialismus die Entwicklung des Faschismus in Deutschland verhindert hätte.
Als sicher kann angesehen werden, dass es den Weltkrieg Nummer 2 nicht in der uns bekannten Art gegeben hätte (mit der deutschen Kriegsschuld also).
Zu diesen Punkten mit sehr hoher kommen solche mit hoher Wahrscheinlichkeit. Der wesentlichste darunter ist die Erwartung, dass auch in anderen europäischen Ländern positivere Entwicklungen wahrscheinlicher gewesen wären. Ich denke da u.a. an das Schicksal der ungarischen Räterepublik oder die italienische Entwicklung zum ersten „Faschismus an der Macht“. Da ließe sich viel spekulieren.
Entscheidend ist etwas Anderes: In der realen Geschichte hatte 1922 ein Anlauf zum Sozialismus nur auf einem Stück Welt überlebt, wo zu diesem Zeitpunkt auf dem Gebiet der „Produktivkraftentwicklung“ nur minimale Ansätze für eine überlebensfähige sozialistische Gesellschaft vorhanden waren. Dies fast nur wegen der Weite des Landes. Eine Welt von Hinterweltbauern, die teilweise auf einem Entwicklungsniveau verharrten, das die deutschen bereits zur Reformationszeit überwunden hatten. Dem standen ein paar dünn gesäte Leuchttürme des Fortschritts gegenüber. Weltweit isoliert, gezwungen, aus eigener Kraft in einen Rundum-Fortschritt zu rasen. Und durch Krieg und Nachkrieg waren sogar frühere Wirtschaftsteile zerstört, während ein autarkes System aufgebaut werden musste. Alles selber machen von allen Rohstoffen, allen Grundindustrien bis hin zu allen Endfertigungen / Bedürfnisbefriedigungen … mit einem Minimum an Fachkräften - auf der anderen Seite erwartete man von dem einzigen „Sieger“ in den Reihen der sozialistischen Bewegung Führung in jeder Ebene.
Nun stelle man sich vor, an der Seite des Rohstofflands Russland hätte wenigstens die – wenn auch vom Krieg zurückgeworfene – Industriemacht Deutschland gestanden. Für den Mathematiker wäre das ein Entwicklungsvergleich wie wenn man 4 x 4 x 4 x 4 an die Stelle von 2 x 2 x 2 x 2 setzt. Anfangs „nur“ jeweils doppelt gute Ausgangsposition, aber bald stünde es 256 : 16! Allein was die gegenseitige wirtschaftliche Befruchtung beträfe ...
Dazu wäre noch etwas Anderes gekommen: Eine objektiv bessere Ausgangslage für innere Demokratie. Wie war die Wirklichkeit? Ein alleiniger Riese konnte gleichberechtigte Mitsprache höchstens simulieren. Es war doch irgendwie selbstverständlich, dass eine Macht, die fast 30 Jahre sich hatte irgendwie einrichten müssen, allein klarzukommen, nach dem nächsten Krieg Schwierigkeiten mit der „Gleichberechtigung“ von Partnern haben musste, die ohne sie allesamt nicht lebensfähig gewesen wären (von der Führungsrolle der einzigen Siegerpartei ganz abgesehen).
Wie anders hätte das objektiv sein können, wenn von Anfang an ein Netz gegenseitiger Abhängigkeiten zum gemeinsamen Vorteil bestanden hätte. (Ich möchte das Rapallo-Vertragswerk ja nicht auf Null setzen, aber hier geht es um die Ausgestaltung eines Wirtschaftsystems.)
Ich darf sogar auf anderer Ebene spekulieren: Ohne den deutschen Faschismus wäre die Atombombe zumindest nicht zu jenem Zeitpunkt einsatzreif gewesen. Ohne die amerikanische (hier wage ich den Ausdruck „amerikanisch-deutsche“) Atombombe wäre die Anstrengungen der Sowjetunion zum Gleichziehen (noch) nicht nötig gewesen – unmittelbar nach der Weltkriegsverwüstung des eigenen Potentials, also zu einer Zeit, wo dieses Land wahrlich Wichtigeres hätte tun wollen.
Aber es war ja nicht der Weltkrieg allein und die Angst danach, gleich wieder in den nächsten mit einem übermächtigen Gegner zu geraten. Es war eben die Hektik, mit der superschnell eine sowjetische Tonnenschwerindustrie aus dem eigenen Lebensstandard herausgeschnitten worden war – wenn man die folgenden Panzerbaukapazitäten berücksichtigt, zu Recht. Das hatte sowohl wirtschaftliche Folgen als auch „ideologische“: Wann hört eine einmal bewährte Tonnenideologie auf, sinnvoll zu sein? Wann ist der Punkt gekommen, wo an die Stelle des Kommandierens, der Kommissare, die das letzte Wort haben, Wirtschafts- und Gesellschaftsdemokratie treten kann … und muss? Wenn es doch so oft nur mit Gewalt hatte gehen können? Mensch ist Mensch – auch wenn er „Kommunismus“ leicht über die Lippen bringt. Und eine „bewährte Methode“ gibt man nicht so leicht auf.
Auf der anderen Seite steht die menschliche Anpassung: Wenn eben immer der Kommissar das Richtige gesagt hatte – allein deshalb, weil er der Kommissar war - dann betäubt das die Selbstüberwindung zum Mitdenken. Dies vor allem unter Bedingungen, wo Väterchen Zar so glatt von einem Generalissimus abgelöst worden war.
Diese Menschen „frei“ zu lassen, ihre Geschicke in eigene Hände nehmen zu lassen, ist dasselbe wie Menschen, die Monate lang in einer finsteren Höhle gehaust haben, ins Licht hinauszuscheuchen. Sie werden anfangs geblendet, hilflos … in die nächste dunkle Ecke torkeln.
Nein, ich behaupte nicht, das dies allein die Geschichte des „Realsozialismus“ erklärt. Sobald man aber diese Aspekte weglässt, entsteht ein verzerrtes Bild. Jeder einzelne Fehler im „Realsozialismus“ hätte als Einzelfall wahrscheinlich vermieden werden können – sie alle lassen sich aber als Masse von Fehlern auf die ungeeignete Ausgangslage zurückführen.



Der Länge wegen teile ich den Entwurf für das Geschichtskapitel IM KOMoDo-Projekt auf. Der vollständige Text findet sich  h i e r.

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