Ohne den DDR-Staat abzulehnen allerdings auch nicht kritiklos anzunehmen, fand ich eine Nische genau für mich. Nur hatte mein „Nischendasein“ Formen, die nicht nur ihrer Zeit weit voraus waren, sondern heute schwer vorstellbar sind. Gut … Die Abteilung war in wechselnden Wohnungen untergebracht, also nicht auf dem Betriebsgelände. Die Kollegen hatten alle gut voneinander abgegrenzte Verantwortungsbereiche. Der Abteilungsleiter schirmte uns vertrauensvoll ab. Insoweit waren die organisatorischen Voraussetzungen für hohe Eigenständigkeit günstig.
Meine Aufgabe war eine Dienstleistung für das Kombinat. Der Außenhandelsbetrieb war darin zuständig für die gesamte Tätigkeit aller Kombinatsbetriebe im Ausland. Alle diese „Reise- und Auslandskader“ hatten vor der ersten Auslandsdienstreise (und dann rhythmisch) einen Lehrgang zu absolvieren. Was dort Gegenstand sein sollte, war in allgemeinen Ministeriumsplänen festgehalten. Allerdings war dies genau genommen ein geballtes Gesamtstudium Außenwirtschaft, Weltanschauung und Menschenqualität / Benehmen in der Öffentlichkeit in einem. Also eigentlich so weit gefasst, dass auf jeden Fall vom großen Plan abgewichen, sprich: gestrichen werden musste. Was das war, blieb den Bedingungen vor Ort überlassen. Ich hatte die tatsächlichen Lehrgänge zu planen und diese Planung auch praktisch umzusetzen. Dabei hatte ich freie Hand, woher ich welche Dozenten gewann (aufs Inland beschränkt). Es wäre wohl überhaupt nicht aufgefallen, hätte ich einige Tage nur Privatangelegenheiten erledigt. Da wäre ich eben auf Dozentensuche gewesen.
Das Maß an Kreativität bei der der Arbeit war sehr hoch. Ich hätte zwar auch ohne anzuecken etwas „zum Abhaken“ machen können, aber gerade weil ich es selbst wollte, jagte ich laufend Verbesserungen hinterher. Seltsamerweise schlug das besonders die schwächsten Glieder der Abteilung in den Bann. Wir „Verantwortungsträger“ teilten uns nämlich eine Sachbearbeiterstelle / Schreibkraft, die nach Bedarf für jeden von uns Hilfsarbeiten zu erbringen hatte. Die erste Kollegin war aber oft in Gedanken (und mindestens am Telefonhörer) beim Bändigen ihrer pubertierenden Tochter (sie war allein erziehend) – also „abwesend“. Ihr Ruf war demzufolge wenig berauschend: Faul, quatscht viel, hat von nichts Ahnung … usw.
Ich war nicht ihr „Chef“. Aber ich missbrauchte sie zum Ideentest und für organisatorische Aufgaben mit sehr komplexen Anforderungen. Ergebnis: Sie blühte allmählich auf. Sie entwickelte Vergnügen an der (Mit-)Lösung von Problemen, die nicht von vornherein lösbar schienen. Sie brachte sich in immer beeindruckenderem Umfang in die Arbeit ein. Schließlich wuchs in ihr Stolz darauf, was WIR geschafft hatten. Bei ihrer jüngeren Nachfolgerin war dies noch stärker. Während sie von den Anderen so behandelt wurde wie jemand, von dem man wenig hielt, konnte sie sich neben mir voll entfalten. Abgesehen davon, dass sie durchaus intelligent war, verstanden wir uns gut zu ergänzen. Über ihre weiblich charmanten Umgangsformen verfügte ich nun mal nicht – jeder zog aus dem Anderen die größten Nutzeffekte, zusammen erreichten wir ein Niveau, auf das wir uns einiges einbilden konnten und das jeder für sich allein nie erreicht hätte.
Beide Sachbearbeiterinnen wuchsen über sich hinaus, indem sie fast selbständig gestellte Aufgaben lösten … im Gefühl, dass eine schwierige Aufgabe von ihnen (mit) gelöst werden würde, weil genau sie das waren, ihre ganz persönlichen Qualitäten. An sich Banalitäten. Aber es kann schon beeindrucken, wie weit Menschen über ihren Schatten springen können, wenn die Rahmenbedingungen dafür stimmen. Bei beiden Kolleginnen war die unterschwellige Verachtung, die ihnen meist entgegengebracht worden war, nicht von vornherein unberechtigt. Beide aber entfalteten eigene Qualitäten, sobald die als wertvoll angenommen wurden.
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